Wahrzeichen und Mythos Russlands
Mit über 9.000 Kilometer Schienennetz ist die Transsibirischen Eisenbahn die längste Eisenbahnstrecke der Erde. Die Fertigstellung dauerte mehr als ein Vierteljahrhundert und kostete zehntausenden Arbeitern das Leben. Heute vor 125 Jahren fand die Grundsteinlegung statt.
Sibirien war bis zum Ende des 19. Jahrhunderts noch so gut wie unerschlossen. Doch reichhaltige Bodenschätze wie Erze, Kohle, Gold und Erdöl versprachen großen Profit. Und in der Taiga, dem größten zusammenhängenden Waldgebiet der Welt, konnten Edelhölzer geschlagen und begehrte Nerze und Zobel gejagt werden. Da es im europäischen Teil Russlands immer wieder Hungersnöte und soziale Unruhen unter den Bauern gab, beschloss Zar Alexander III., diese Ressourcen zu nutzen und einen Schienenweg vom Atlantik bis zum Pazifik zu bauen: die Transsibirische Eisenbahn. Gertrund Pickhan, Osteuropa-Historikerin von der FU Berlin:
"In Sibirien lebten ja die verschiedensten indigenen ethnischen Bevölkerungsgruppen, zum Teil nomadisch und damit eben aus russischer Sicht unzivilisiert. Mit dem Bau der Transsibirischen Eisenbahn verbunden waren ja auch größere Siedlungsprojekte. Es kamen russische Spezialisten in diesen Raum, es wurden Städte gebaut, die eben dann doch mehr oder weniger zu russischen Städten wurden, in einem Gebiet, das eben nicht das russische Kerngebiet war."
Mit dem Bau der Bahnstrecke wollte der Zar zudem den kolonialen Besitz Russlands in Asien festigen und eine Vormachtstellung vor dem aufstrebenden japanischen Kaiserreich etablieren. In Wladiwostok tat Alexanders Sohn, der Thronfolger Nikolaj II. am 31. Mai 1891 deshalb feierlich den ersten Spatenstich für die längste Eisenbahnstrecke der Erde, die ein Viertel des Erdumfanges misst und von den Russen stolz "der große sibirische Weg" genannt wird. Der Bau begann an fünf Stellen gleichzeitig. Über Tausende von Kilometern musste Material herangeschafft werden.
Symbol für den Fortschritt Russlands
Wenn im Winter der Boden gefroren war, der Schnee meterhoch lag und im Frühling Ströme von Schmelzwasser alles überfluteten, mussten die Arbeiten oft monatelang eingestellt werden. Doch die Transsibirische Eisenbahn wurde zum Wahrzeichen für technischen Fortschritt und die Industrialisierung Russlands. Aber der Mythos der Bahnlinie, so Gertrud Pickhan, war wesentlich größer als ihre tatsächliche wirtschaftliche und militärische Bedeutung.
"Der große wirtschaftliche Zugewinn ist gar nicht wirklich geleistet worden. Auch während des russisch japanischen Krieges 1904, 1905 hat man dann ja noch ganz massiv daran gebaut, aber da war es dann zu spät, denn den Krieg hat Russland verloren. Man hatte sich ja auch völlig verschätzt, was die Kosten anging."
Da in Sibirien so gut wie keine qualifizierten Arbeitskräfte zu finden waren, mussten Lohnarbeiter aus China, Japan und Korea angeheuert werden. Für die Brückenarbeiten engagierte man sogar Steinmetze aus Italien. Der Baikalsee wurde anfangs mit Fähren überquert, die die Passagiere samt Zug ans andere Ufer schafften. Im Winter hatte man Schienen auf dem Eis verlegt. Nachdem eine Lokomotive versunken war, transportierte man Bahn und Fahrgäste mit Pferdeschlitten über den zugefrorenen See. Erst 1904 wurde die über 1.000 Kilometer lange Gleisstrecke am gebirgigen Ostufer vollendet. Auch als Zar hatte Nikolaj II. stets den Bau vorangetrieben. 1916, 25 Jahre nach seinem ersten Spatenstich, war endlich eine einspurige Strecke fertig. Aber die wurde auch von seinen Gegnern genutzt.
"Das war ja ein unerwünschter Nebeneffekt, dass diese moderne Technik auch den russischen Revolutionären zur Verfügung stand, die revolutionäre Schriften, Flugblätter mit der Eisenbahn transportierten, die Bahnhöfe ganz gezielt für terroristische Anschläge nutzten."
Zar Nikolaj II. war in den Revolutionswirren von den Bolschewiki nach Katharinenburg gebracht und im Juli 1918 erschossen worden – makabererweise in der Nähe der Gleise der Transsibirischen Eisenbahn.