Gruseltourismus

Möglichst nah ran an den Völkermord

Gebeine von Genozidopfern in der Gruft hinter der Kirche von Nyamata in Ruanda
Erinnerung an den Völkermord in Ruanda: Gebeine von Genozidopfern in der Gruft hinter der Kirche von Nyamata © picture alliance / dpa / Jesko Johannsen
Von Susanne Arlt |
Tatorte von Serienmördern, Völkermord-Schlachtfelder in Ruanda oder Geisterstädte um Tschernobyl - Orte von Tod und Zerstörung ziehen immer mehr Besucher an. Beim Katastrophentourismus geht es weniger um Lehren aus der Geschichte, als um den Gruseleffekt.
Welche Katastrophe gibt Ihnen den touristischen Kick? Vielleicht 9/11?
Knapp 3000 Menschen starben in den Trümmern der Zwillingstürme in New York.
Oder ist es eher Tschernobyl?
Wie viele Menschenleben der Super-GAU kostete, ist bis heute unklar. Manche sprechen von 9000 Krebstoten, andere wiederum von knapp 1,5 Millionen Toten. Noch heute ist das Gebiet um die Geisterstadt Pripyat verstrahlt.
Vielleicht sind Ihnen darum die Killing Fields in Kambodscha lieber?
Dort wurden mindestens 200.000 Menschen von der Roten Khmer ermordet.
Die Touristenströme zu all diese Stätten ebben nicht ab. Im Gegenteil. Tod, Zerstörung auch die Tatorte von Serienmördern ziehen immer mehr neugierige Besucher an.
"Wir Menschen sind halt alle mit dem Tod konfrontiert. Darum fasziniert uns das Unausweichliche, das Unvermeidliche. Ich glaube, durch den Blick auf unsere dunklen menschlichen Seiten versuchen wir nur, uns besser zu verstehen."
Katastrophentourismus – auch Dark Tourism genannt – floriere jedenfalls, sagt John Lennon. Der Wissenschaftler von der Glasgow Caledonian University untersucht das Phänomen seit 30 Jahren. Darunter versteht man touristische Orte, wo einst gelitten und gestorben wurde. Vor allem dann, wenn es sich um das Leiden und den Tod anderer handele und man sich deshalb gerettet fühlen kann, erklärt Lennon. Ein Privileg.

Reenactment von Bürgerkriegsschlachten

"Ein Teil dieser Faszination liegt wohl in der eigenen Wahrnehmung. Geschehnisse können so besser nachempfunden werden, die Menschen wollen fühlen, berühren, schmecken. Das alles wird dann noch schön verpackt in einem Tourismus-Packet angeboten. Nehmen wir das Beispiel Ruanda. Erst schauen sie sich die Tierwelt an, die Gorillas zum Beispiel, danach fährt man sie zu den Schauplätzen des Völkermords."
Katastrophentourismus sei kein modernes, sondern ein altes Phänomen, meint der Wissenschaftler. Ein Beispiel dafür: das Massaker von Manassas, wo die erste große Landschlacht im US-amerikanischen Bürgerkrieg tobte.
Nur einen Tag später erwarb ein amerikanischer Unternehmer das Schlachtfeld, um es für touristische Zwecke zu nutzen.
Massen von Schaulustigen reisen bis heute nach Virginia, um den so genannten Reenactment-Veranstaltungen zuzuschauen, in denen Bürgerkriegsschlachten aufwendig nachgestellt werden. Wie bei der Schlacht von Waterloo 1815.
Die Schlacht von Waterloo wurde schon zu Lebzeiten quasi live mitverfolgt. Von ihren Kutschen aus beobachteten Damen und Herren das schaurig-blutige Geschehen. Und in manchen Teilen der Welt werden bis heute ja Exekutionen öffentlich zur Schau gestellt. Das Interesse daran nimmt kein Ende. Und um den Grusel zu legitimieren, argumentierte man schon früher: Dies ist Teil der Moderne. Man lernt aus seinen Fehlern und verhindert so Sünden in der Zukunft.
Lennon hat in den vergangenen 30 Jahren zahlreiche Dark-Tourismus-Touren absolviert. Von Auschwitz über Verdun bis zu den Killing Fields in Kambodscha. Dabei hat er beobachtet, dass diese Art von Tourismus gerne durch einen pädagogischen Ansatz legitimiert wird. Der Erinnerung und dem "Nie wieder". Lennon ist überzeugt: Viele Besucher kommen aus einem ganz anderen Grund. Möglichst nah möchten sie an das Grauen, an den Tod herankommen, aber selber dabei nichts riskieren.
"Man muss hoffen, dass die Menschen bei diesen Touren auch etwas lernen, ihr Wissen erweitern, dass diese Touren also einen heilsamen Charakter haben. Aber oft ist es nichts anderes als der pure Voyeurismus, der die meisten Besucher dazu antreibt, sich all das anzuschauen, es zu fotografieren, danach hoch zu laden, um es dann einfach als Teil ihrer Urlaubserlebnisse abzuspeichern."

Weniger Informationen, dafür mehr Unterhaltung

An vielen Gedenkstätten werde die Geschichte stark verkürzt, manchmal sogar falsch wiedergegeben, behauptet Lennon. Das Motto laute dort: weniger Informationen, dafür mehr Unterhaltung. Inhalte ordne man dem Wunsch nach hohen Besucherzahlen unter, und nicht so sehr dem Bestreben, einen unverzerrten Blick auf die Geschichte zu gewähren. Dabei könne man Ausstellungen mit Gruseleffekt auch sehr verantwortlich gestalten, so John Lennon. Im Fokus stünden dann vor allem der Lehr- und Lerneffekt.
Zu solchen gehört wohl auch das Medizinhistorische Museum der Charité. Vor allem, wenn man eine Führung mit Tom Siewert bucht. Ein Gruselkabinett par excellence – visuell und akustisch. 1000 Präparate, meist konserviert in Alkohol. Manche sogar in Gänze. Ungeborene Föten mit Fehlbildungen. Siamesische Zwillinge.
Zum Beispiel Kriegsverletzungen: Wie ein Schädeldach nach ein paar Säbelhieben aussieht. Oder Kopferkrankungen: Wie ein Tumor erst das Jochbein zerstören kann und danach den Schädel angreift. In der Vitrine daneben stehen zwei poröse Kopfskelette.
"Hier meine beiden Lieblinge. Die Syphilis. Sie ist unglaublich grausam. Wird sie nicht behandelt, führt die den Patienten in den Wahnsinn. Sie können so ab dem dritten Stadium dem Patienten mit einem Finger im Gehirn rumtasten."
Eine Vitrine später das Thema Amputation vor 250 Jahren. Für eine Beinamputation brauchte ein erfahrener Barbier nur wenige Minuten, erzählt Tom Siewert.
"Das musste schnell gehen, noch haben wir keine Narkose, wir spüren den Schmerz. Schmerz kann töten…"
Bald gibt die erste Besucherin auf.
"So ein bisschen flau ist das Ganze, mein Körper merkt, ähhh ist gefährlich! Diese Vorstellung ist dann einfach so ekelig."
Erholen kann sie sich einen Stockwerk höher. Es ist, als werfe man hier einen Blick in die Welt der Kranken. Der Gegenentwurf zu Gunther von Hagens Körperwelten. Denn alle Exponate stehen in einem sinnvollen Kontext und sollen die Frage beantworten, warum die Medizin den Körper aufschneidet und was sie im Laufe der vergangenen drei Jahrhunderte erreicht hat. Am Ende dieser Ausstellung hat wohl jeder begriffen, wie empfindlich der menschliche Körper ist.
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