Grzimek des Ostens

Von Jürgen Bräunlein |
Ruhestand mit 65? Darüber kann Günter Tembrock nur lachen. Der Mann ist 87 Jahre alt und immer noch jeden Werktag im Dienst. Der Verhaltensbiologe forscht und lehrt am Institut für Biologie an der Humboldt-Universität zu Berlin und ist auch sonst ein Unikum.
Ohne den Professor wäre die Hauptstadt um viele Tierstimmen ärmer. Tembrock hat ein Tierstimmenarchiv aufgebaut. Es ist das drittgrößte der Welt. Und wird nicht nur von Wissenschaftlern genutzt. Bei der Multimedia-Ausgabe des brandneuen "Brockhauses" bediente sich der Verlag aus dem Stimmenfundus.
" Ich habe nie nach den Namen der Pflanzen gefragt, immer nur nach denen der Tiere. Und in meinem Buch, das 1959 erschien, steht im Untertitel: Einführung in die Bioakustik. Das Wort hab ich erfunden. Das weiß aber kein Mensch. "

Professor Günter Tembrock ist eine Koryphäe der Wissenschaft und ein Original. Der Verhaltensbiologe liebt die Tiere, besonders ihre Stimmen. Das Arabische Wüstenhuhn ebenso wie das Zwitscherheupferd oder den Erdbeerfrosch.

" Ich habe schon als Schüler stundenlang da gesessen und Tiere beobachtet. Nicht primär die Tierstimmen, aber die kamen dann dazu, denn mein Vater hielt sechs bis acht heimische Singvögel, die natürlich auch gesungen haben. So dass ich von Kind an Vogelstimmen in der Wohnung hatte. Amsel, Buchfinken, Grasmücken."

Drei verschiedene Gesellschaftssysteme hat Günter Tembrock kommen und gehen sehen. Aufgewachsen in der Weimarer Republik, begann er seine wissenschaftliche Laufbahn im Dritten Reich und wurde Professor in der ehemaligen DDR. Studiert hat er Zoologie an der Humboldt-Universität, wo noch heute sein Arbeitsplatz ist. Sein vielleicht größter Erfolg: die Gründung einer Forschungsstätte für Tierpsychologie 1948. Zwei Jahre später beantragte das Institut ein Aufnahmegerät.

"Ein Raum höher hier auf der Seite, da gab’s oben auf dem Baum einen Waldkauz, der kam vom Friedhof herüber geflogen und der rief gerade, da hab ich das Mikrophon rausgehalten, die Aufnahme haben wir heute noch, das ist die Nummer drei unseres Archiv. Und die kann man noch vorführen, nur ist die nicht ganz so gut, eben etwas gestört, weil ich damals nicht wusste, dass man das Gerät ein bisschen vom Motor weghalten muss, deswegen ist ein kleines Brummen drauf im Hintergrund."

Mit den Jahren wurden die Aufnahmegeräte immer kleiner und der Ehrgeiz des Archivars immer größer.

" Wo immer ich mich bewegte, wenn ich außerhalb der Stadt war, irgendwo im Wald war oder sonst wo oder im Urlaub, hing immer ein Tonbandgerät an meinem Körper, und sobald irgendwo eine Stimme zu hören war: Gerät fertig machen, aufnehmen."

Immer wieder machte der Tierstimmenlauscher Tonaufnahmen im Westberliner Zoo - was verboten war - und schmuggelte die Kassetten über die Grenze.

" Und ich habe ständig weitergearbeitet. Das heißt, in der Zeit, wo die ganzen Schwierigkeiten waren, da kamen die nächsten Bücher. "

1983 ging der Wissenschaftler in den Ruhestand und ins Fernsehen. Seine TV-Reihe "Professor Tembrocks Rendezvous mit Tieren" lief noch bis kurz nach der Wende. Der Tierstimmenarchivar als Grzimek des Ostens. Heute ist Tembrock 87 - und immer noch an der Universität.

" Ich bin ich also von zehn bis fünf Uhr nachmittags hier. Wenn nicht noch Kolloquien oder ähnliches sind. Meine Vorlesung fängt ja erst um 18.00 Uhr abends an am Montag und geht bis halb Acht. Aber vorher war ich noch eine Stunde früher da, da war ich schon um neun Uhr im Haus."

"Darwins Schatten", "Der Schnabel der Finken", "Meine Orang-Utans": Die Holzregale in seinem Büro sind vollgestopft mit Büchern. Der Professor hüstelt und trinkt Bananensaft. An der Wand über dem Schreibtisch hängen zwei seiner Lieblingstiere, mit denen er sich jahrelang wissenschaftlich beschäftigt hat: die Füchsin Fifi und die Schimpansin Susi. Vor allem Schimpansen und Gibbons haben es dem Tierlauscher angetan. Im eigentlichen Tierstimmerarchiv, das neben seinem Büro liegt, geht es zur Zeit hoch her. Tausende von Tonbändern werden digitalisiert. Über die Hälfte sind schon in der Datenbank erfasst. Die Nachfrage nach den Stimmen ist groß. Für die Multimedia-Version des neuen "Brockhauses" hat das Archiv die Tierstimmen geliefert. Günter Tembrock ist zufrieden. Wäre da nicht eine Kleinigkeit. Im wissenschaftlichen Austausch mit Kollegen aus dem Ausland tut er sich etwas schwer.

" Bis heute ist es eine Belastung gewesen, dass ich praktisch nur einmal in England gewesen bin, noch vor der Mauer, und danach nie wieder und habe dadurch bei der englischen Sprache, die ich normal lesen kann, aber Schwierigkeiten habe, wenn ich frei sprechen soll."

Doch es gibt auch ein Leben nach der Arbeit. Wer den vitalen Prof für einen Fachidioten hält, der irrt. Der ausgebildete Baritonsänger trainiert seinen Gesang jedes Wochenende. Werktags analysiert er am PC Klangfarben und Tonfrequenzen großer Opernstimmen. Der von Dietrich Fischer-Dieskau etwa, mit dem Günter Tembrock - gewissermaßen von Sänger zu Sänger - in Briefkontakt steht. Am liebsten aber sind dem Professor immer noch Tierstimmen.

"Wenn wir von Menschen reden, müssen wir die Tiere kennen."