Kleines Land, großes Vorbild?
24:25 Minuten
Korruption ist kein Schicksal. Die kleinen Länder Zentralamerikas machen den Großen vor, dass es ein Rezept dagegen gibt. Die Guatemalteken haben ihre Regierung vor drei Jahren aus dem Amt gejagt - mit Folgen für die ganze Region.
Für eine Gruppe von Schülerinnen und Schülern aus Guatemala-Stadt findet der Unterricht an diesem Freitagmorgen nicht im Klassenzimmer, sondern in einem Bus statt. Aus dessen Lautsprechern scheppert das Lied: "Todo se pagará" - "Für alles muss man einmal bezahlen".
Es ist keine gewöhnliche Stadtrundfahrt, sondern eine "Korruptionstour".
"Bienvenidos al tour de la corrupción, un viaje hacia la transparencia, mi nombre es Dani Villatoro, y yo voy a ser uno de sus guías hoy."
Daniel Villatoro ist einer der Moderatoren dieser Tour, bei der die Schüler bekannte Orte der Korruption in Guatemalas Hauptstadt besuchen. Los geht’s am Parque Central, dem zentralen Platz der Hauptstadt.
"Y vemos que desde 2015, luego de revelarse varios casos de corrupción, eso fue el escenario principal de muchas protestas."
2015 demonstrieren hier Woche für Woche Tausende Guatemalteken gegen ihre korrupte Regierung, weil die hohe Millionenbeträge unterschlagen hat, erzählt Villatoro. Es ist erst drei Jahre her, da jagen die empörten Bürger den damaligen Präsidenten Otto Pérez Molina und die Vizepräsidentin in die Flucht. Sie erzwingen deren Rücktritt. Beide sitzen bis heute in Untersuchungshaft. Ein Riesenerfolg im Kampf gegen die Korruption, der nicht nur den Guatemalteken Mut macht, sondern auch die Bewegungen in den Nachbarländern beflügelt. Aber die Korruption blüht dennoch weiter in Guatemala.
Der Weg ist noch sehr weit, sagt Gabriel Wer, der 2015 die Proteste mitorganisiert hat.
"Wir sind an einem schwierigen Punkt angelangt, viele Menschen sind müde, denn wir sind ja schon seit drei Jahren dabei, und immer wenn es zwei Schritte vorwärts geht, dann geht es wieder sechs zurück."
Die Aktivisten sind sich über Ziele und Mittel nicht einig und reiben sich in langen Diskussionen auf.
"Die Bewegung ist ja entstanden, um die Machthaber zu stürzen, und jetzt müssen wir erstmal lernen, wie wir selbst Einfluss und Macht gewinnen können, aber auf eine neue, andere Art.
Sandra Morán bringt erste Erfahrungen ein. Jahrelang hat sie sich als Aktivistin für Frauenrechte und sexuelle Selbstbestimmung eingesetzt. Bei den letzten Wahlen zieht sie dann als erste offen lesbische Abgeordnete in der Geschichte des Landes überraschend ins Parlament ein.
"Ich konnte mir gar nicht vorstellen, was es heißt, Abgeordnete zu sein, und damit will ich sagen, dass die vergangenen zwei Jahre wirklich eine harte Erfahrung waren. Es gab zwar 80 neue Abgeordnete im Parlament, aber viele haben dann eben doch mit den dunklen Kräften in diesem Land paktiert, d.h. die unabhängigen, wirklich demokratisch denkenden Abgeordneten sind in der Minderheit."
Das lernen auch die Schüler der Korruptionstour, die jetzt mit dem Bus am Parlament angelangt sind.
"Wer glaubt hier an Gespenster? Niemand? Aber ihr habt doch sicher gehört, dass es hier Orte gibt, wo es spuken soll. Guckt mal auf dieser Seite, da ist die Tür vom Parlament, das ist das Gebäude, und da drinnen sind die Abgeordneten, wenn sie ihre Sitzungen haben."
Die Schüler zücken ihre Smartphones. Auf dem Gehweg vor dem Parlament haben sich zwei junge Männer mit weißen Bettlaken als Gespenster verkleidet. Sie sollen an die "Plazas Fantasma" erinnern – "Geisterstellen", geschaffen von Abgeordneten für Familienmitglieder, Freunde und Bekannte. Arbeitsplätze, die gut bezahlt waren, die es aber in Wirklichkeit gar nicht gab. Dienstleistungen wurden in Rechnung gestellt, aber nie erbracht. Arbeiten abgerechnet, die nur auf dem Papier existierten. Ein Fall, der für viel Empörung sorgt – und doch nur die Spitze des Eisbergs ist.
Die Parlamentarier reagieren auf Enthüllungen wie diese auf ihre Weise: Um sich vor weiteren Ermittlungen zu schützen, gehen sie zum Gegenangriff über. Fraktionsübergreifend versuchen sie im Herbst 2017 ein Gesetzespaket auf den Weg zu bringen, das die Strafen für Korruptionsdelikte drastisch reduzieren soll. Einige Straftatbestände sollen sogar ganz aufgehoben werden, erinnert sich die Oppositionspolitikerin Sandra Morán.
"Die haben einfach gemacht, was sie wollten – und zwar völlig legal, auch wenn es natürlich nicht legitim war. Zum Glück haben einige von uns aufgepasst und die Öffentlichkeit informiert, und die Menschen haben schnell reagiert und sind zum Parlament gekommen."
Ermittlungen gegen den Staatschef
Die Proteste bekommen Rückhalt durch des Verfassungsgericht. Die Gesetzesreform kann gerade noch gestoppt werden. Das wäre vor einigen Jahren noch undenkbar gewesen.
Der Kampf gegen die Korruption in Guatemala hat auch deshalb so viel Rückenwind, weil es die CICIG gibt, eine Internationalen Kommission zur Bekämpfung der Straflosigkeit in Guatemala, eingesetzt von der UNO. Mit ihr unterzeichnet die Regierung vor über 10 Jahren einen Vertrag, um die Kommission im Land zu etablieren und so die Demokratie zu stärken. Lange Jahre hört man nicht viel von deren Arbeit. Aber als die Kommission zusammen mit der guatemaltekischen Staatsanwaltschaft endlich gegen hohe Politiker und Wirtschaftsbosse erfolgreich ermittelt, wendet sich das Blatt: Die CICIG und ihr Chef Iván Velásquez fallen nicht nur bei vielen Abgeordneten in Ungnade. Selbst der aktuelle Präsident Jimmy Morales versucht Velásquez loszuwerden, seit auch gegen den Staatschef Ermittlungen wegen illegaler Wahlkampffinanzierung laufen. Unterstützung bekommt Morales dabei von rechten Ideologen wie Ricardo Méndez Ruiz. Über die sozialen Medien verbreitet dieser die Botschaft, der CICIG-Chef sei ein Agent des Weltkommunismus und warte nur darauf, Guatemala in ein zweites Venezuela zu verwandeln.
"Hugo Chávez hat ja auch nicht gleich gesagt, dass er eine extrem linke Politik machen würde, das hat sich erst später gezeigt. Und so ist Venezuela zu dem geworden, was es heute ist. Wir in Guatemala sind ein Spiegelbild von Venezuela, denn wir bewegen uns in genau die gleiche Richtung."
Auch wenn momentan rein gar nichts darauf hindeutet, dass die konservativen Eliten Guatemalas die Macht aus der Hand geben könnten, treffen die Prophezeiungen von Méndez Ruiz bei manchen Guatemalteken auf offene Ohren. Denn wie zu Zeiten des Kalten Krieges gilt der Sozialismus in Guatemala als Schreckgespenst – und ist nützlich, um den politischen Gegner zu diffamieren. Die katastrophalen Verhältnisse in Venezuela nutzen derzeit viele lateinamerikanische Politiker aus, um Angst zu schüren – nicht nur in Guatemala.
Honduras ist das Nachbarland von Guatemala, und auch hier kämpfen Organisationen der Zivilbevölkerung gegen die Zustände in ihrem Land. Mit einem selbst gedichteten Lied beschwört die Opposition den baldigen Abtritt von "JOH" – dem Präsidenten Juan Orlando Hernández. Der ist nur deshalb noch im Amt, weil er die Verfassung gebrochen und seine Wiederwahl erschlichen hat. Das sagt Joaquín Mejía vom ERIC, einem Think-Tank der Jesuiten in Honduras. Wenn er die Schwierigkeiten seines Landes beschreibt, fühlt man sich unweigerlich an Guatemala erinnert.
"Die zwei großen Probleme, mit denen wir uns beschäftigen sollten, sind die Straflosigkeit und die Korruption. Das ist wie mit Geschwistern, die sich gegenseitig helfen. Die Korruption führt zu Straflosigkeit, und die Straflosigkeit ist wie eine Art Schutzschild, das die Korrupten beschützt."
Proteste auch in Honduras
Und genau wie in Guatemala gibt es 2015 auch hier einen empörenden Korruptionsfall, der die Menschen in Honduras über Monate auf die Straßen treibt. Die Demonstranten fordern ebenfalls eine internationale Ermittlungskommission nach dem Vorbild von Guatemala. Doch statt eines UN-Mandats reicht es in Honduras nur für die Schaffung einer sogenannten "Mission für die Unterstützung beim Kampf gegen Korruption und Straflosigkeit", kurz MACCIH, finanziert von der Organisation Amerikanischer Staaten. Zwei Jahre lang agiert die Mission ohne großen Erfolg. Doch als sie Ende 2017 ein Korruptionsnetzwerk im honduranischen Parlament aufdeckt, wehren sich die Abgeordneten – genau wie in Guatemala.
"Dort wird im Parlament ein Pakt der Straflosigkeit verabschiedet – und hier in Honduras passiert genau das Gleiche. Man könnte fast meinen, die korrupten Eliten in beiden Ländern würden sich bei diesen Fragen absprechen."
Aber anders als in Guatemala wird das Gesetz nicht gestoppt, ein Einspruch vom Verfassungsgericht abgewiesen. Nun darf die Mission nicht mehr zu Korruptionsvorwürfen bei der Verwendung öffentlicher Gelder ermitteln, die beschuldigten Abgeordneten bleiben straffrei.
Allgemeines Misstrauen genießt inzwischen Luis Almagro, der Generalsekretär der Organisation Amerikanischer Staaten. Denn er kritisiert die Arbeit der Mission öffentlich. Menschenrechtsexperte Joaquín Mejía hat dafür eine Erklärung.
"Ich glaube, der Generalsekretär vertritt die Interessen einiger Staaten, die nicht wollen, dass die MACCIH ein Erfolgsmodell wird und beispielhaft sein könnte für andere Länder mit schwachen Institutionen, hohen Korruptionsraten und großer Straffreiheit, wie zum Beispiel Mexiko."
Glaubt man dieser Erklärung, dann wundert es nicht, dass die Mission inzwischen enorm geschwächt ist. Mehrere Rücktritte und Rausschmisse lassen die Organisation Amerikanischer Staaten in einem dubiosen Licht erscheinen – ein Schlag ins Gesicht für diejenigen, die sich von der internationalen Mission echte Unterstützung versprochen haben.
Also werden die Honduranerinnen und Honduraner ihr Schicksal wohl selbst in die Hand nehmen müssen. Und das tun sie auch. Trotz massiver Einschüchterungen demonstrieren Ende vergangenen Jahres Hunderttausende gegen den aus ihrer Sicht illegitimen Präsidenten Hernández. Der sitzt weiter fest im Sattel – Polizei und Armee greifen bei jeder Demonstration brutal durch. Mehr als 30 Menschen sind seit den Wahlen bei Zusammenstößen mit den Sicherheitskräften ums Leben gekommen. Die Journalistin Jennifer Ávila ist dennoch optimistisch:
Keine Massendemonstrationen in El Salvador
"Ich glaube, die Bürgerbewegung wird langsam erwachsen, auch wenn wir sie nach dem ganzen Staatsterror so bald nicht wieder auf der Straße sehen werden. Aber die Menschen sind aufgewacht, sie sind längst nicht mehr so indifferent wie vorher."
El Salvador ist das kleinste Land Zentralamerikas. Es wird ein neues Parlament gewählt, mit eigens komponierten Hymnen werben die Parteien noch in letzter Minute um Wählerstimmen. Die Menschen sind unzufrieden: Kriminalität, Perspektivlosigkeit, und natürlich – die Korruption, die auch in El Salvador gärt. Nur: Anders als in den Nachbarstaaten Guatemala und Honduras hat es hier bisher keine Massendemonstrationen gegeben. Warum?
"Ich glaube, dass wir in punkto Mobilisierung der Bürgerinnen und Bürger noch hinterherhinken, da sind uns Guatemala und Honduras um einiges voraus, die Empörung im Land ist immer noch nicht groß genug."
Das meint Korruptionsexpertin Jessica Estrada von der Stiftung "Fundación para el Desarrollo". In El Salvador gibt es keine internationale Ermittlungsbehörde wie in Guatemala oder Honduras. Stattdessen unterstützen vor allem die USA direkt die salvadorianische Staatsanwaltschaft, um bessere Ermittlungserfolge zu erzielen. Eigentlich eine gute Idee, findet Marco Pérez Navarrete von der Heinrich-Böll-Stiftung.
"Die Stärkung der eigenen Institutionen wird immer wichtiger sein als eine Kommission, die von außen kommt. Das ist die Ideallösung, und so haben es auch die politischen Parteien im Land dargestellt, aber natürlich haben die daran auch ein Eigeninteresse, weil sie eben selber ihre Leichen im Keller haben. In allen großen Parteien gibt es Korruption, und deshalb unterstützen sie auch keine direkte Intervention einer ausländischen Kommission."
Denn die wäre schwerer zu kontrollieren als die eigenen Behörden. Doch auch die salvadorianische Staatsanwaltschaft kann Erfolge vorweisen: Aufgrund ihrer Korruptionsermittlungen sind bereits ein Ex-Präsident und ein ehemaliger-Generalstaatsanwalt ins Gefängnis gewandert. Ähnlich ist es mittlerweile vielen anderen, weniger prominenten Staatsangestellten ergangen. Grund dafür ist das noch junge Informationsfreiheitsgesetz, das den Menschen Zugang zu vorher geheimen Informationen öffentlicher Einrichtungen garantiert, meint Korruptionsexpertin Jessica Estrada.
"Daraufhin haben viele Bürger angefangen, die Informationen über das Privatvermögen verschiedener Staatsbediensteter anzufordern, und es gibt verschiedene Fälle, in denen Menschen wegen illegaler Bereicherung vor Gericht stehen."
Die Gegner im Kampf gegen die Korruption scheinen in Zentralamerika übermächtig: schamlose Politiker, nationale und internationale Wirtschaftsbosse, die Drogenmafia. Der normale Bürger ist zum Mitmachen und zum Schweigen verdammt – so schien es zumindest lange Zeit. Doch ausgerechnet die kleinen Länder El Salvador, Guatemala oder Honduras zeigen, dass man auch mit kleinen Schritten und allen Widerständen zum Trotz ein Land von Grund auf verändern kann.