Gülle, Torf und Humus

Von Christoph Leibold |
"König Lear" erzählt vom Sturz eines Königs, der - seiner Macht und Majestät entkleidet - in die Kreatürlichkeit stürzt. Johan Simons verlegt die Handlung auf eine Art Bauernhof, schafft es aber nicht, die Zuschauer zu beeindrucken.
Noch ehe die Vorstellung beginnt und es etwas zu sehen gibt, riecht und hört man sie schon: die fünf leibhaftigen Schweine, die auf der mit rot-weißen Stoffbahnen verhangenen Bühne laut vernehmlich grunzen und einen strengen Landluft-Duft im Schauspielhaus der Münchner Kammerspiele verbreiten. Nachdem sich der an die Planen eines Zirkuszelts erinnernde Vorhang gehoben hat, dauert allerdings es noch eine ganze Weile (nämlich bis der berühmte Sturm auf der Heide mit viel Theaterdonner, Kunstnebel und Wind aus deutlich sichtbaren Gebläsen über die Bühne hinweggefegt ist), ehe die Viecher ins Rampenlicht trotten und herumschnüffeln, mitten unter den menschliche Hauptdarstellern. Aber was wäre auch der Mensch anderes als ein Tier auf zwei Beinen?

"König Lear" erzählt vom Sturz eines Königs, der - seiner Macht und Majestät entkleidet - in die Kreatürlichkeit stürzt. Kammerspiele-Intendant Johan Simons hat in seiner Inszenierung deshalb einen erdigen Weg eingeschlagen. Von der Bühne herab weht den Zuschauer nicht nur der Gestank von Schweinegülle an, auch der Geruch von Torf und Humus liegt in der Luft- von jenem Stoff also, aus dem wir alle sind und zu dem wir dereinst wieder zerfallen. Es ist der Geruch der Sterblichkeit, von dem Lear sprechen wird, wenn ihm Graf Gloucester die Hand küssen will.

Eine nach hinten leicht schräg ansteigende Drehscheibe ist zentraler Spielort in der Bühnenmitte, anfangs bedeckt von üppig sprießendem Gras, das aber im Laufe der Aufführung zunehmend zerwühlt wird. Was die torfige Duftnote freisetzt. Am Ende liegen etliche Leichen auf dem zum Acker zerwühlten Rasen.

Dass Dramaturg Koen Tachelet wegen all dem im Programmheft von einem "Lear auf dem Bauernhof" schreibt, scheint dennoch ein wenig übertrieben. Wie Bauernvolk sieht das Personal des Stücks an den Kammerspielen nicht aus, zumindest nicht im europäischen Sinne. Eher hat man das Gefühl, den Vertretern eines archaischen Nomaden- oder Reitervolks zu begegnen, dass irgendwo, irgendwann zwischen Sibirien und der Mongolei umherzog, gekleidet in Pelze, hochschaftige Stiefel und grobes Leinen. Männer mit langen Zottelmähnen und ausladenden Schnauzbärten. Gleichzeitig könnten sie auch einer vagabundierenden Gauklertruppe angehören.

Wie ein Zirkusdirektor steht André Jungs König Lear mit Reitgerte in der Hand, seine Untertanen ähnlich einer Pferde-Dressur vorführend, auf der Drehscheibe, die nicht nur das Schicksalsrad zitiert (das den Menschen ebenso sicher in luftige Höhen führt wie es ihn wieder zurück in die Niederungen seiner nackten Existenz rotiert), sondern zu Beginn auch an eine Manege erinnert.

Die Zirkus-Assoziation verliert sich im weiteren Verlauf des Abends. Was aber bleibt, ist der Eindruck einer Inszenierung, die "König Lear" als eine Art Schaustellerstück mehr aus- als darstellt. Eine Leuchttafel zeigt bei weitgehend unveränderter Kulisse wechselnde Schauplätze an. In Verbindung mit der Figurenzeichnung der Schauspieler, die ihre Charakter mehr vorführen als ausfüllen, ergibt das klassisches Verfremdungstheater, das hier allerdings nicht wirklich den distanzierten und damit genaueren Blick des Zuschauers schärft, ihm aber sehr wohl den emotionalen Zugang zum Geschehen erschwert. So sitzt man die rund dreieinhalb Stunden, die die Aufführung dauert, weitgehend unbeteiligt ab.

Vor allem nach der Pause wird das Stück zunehmend uninspiriert heruntererzählt. Die Drehscheibe mutet nun wie eine Podium an, das eine Gauklertruppe auf irgendeinem provinziellen Marktplatz aufgestellt hat, um dort ein bisschen Tragödie zu spielen. Der Eindruck drängt sich auf, dass Simons während der Proben die Lust oder sogar den Glauben an diese Inszenierung verloren hat. Die letzte Aufführungsstunde wirkt wie schlampig auf den Proben durchgestellt, keineswegs durchinszeniert.

Nur Andé Jung als im stillen Wahnsinn hellsichtiger Lear, der mit beinahe heiterer Gelassenheit Brotkrummen aus einer Tüte knabbert, über das Dasein sinniert und dabei ganz bei sich angekommen scheint, hat nun seine stärksten Moment. Davor, im tosenden Theatersturm - von Johan Simons mit viel lärmendem Budenzauber in Szene gesetzt - hatte er kaum Chancen, den in Lear tobenden inneren Sturm der Seele zu gestalten - so laut wie er gegen das Getöse anzuschreien gezwungen war.

Während Jung also im Laufe der Vorstellung immer besser wird, baut die Inszenierung zusehends ab. In der Summe eine recht durchschnittliche Stadttheatervorstellung, die die hohen Erwartungen allzu deutlich enttäuscht hat. Die Messlatte war Dieter Dorns legendärer "Lear" vom Anfang der 90er Jahre mit Rolf Boysen in der Titelrolle, eine der letzten gelungenen Großtaten des Intendanten-Vor-Vorgängers von Johan Simons an den Münchner Kammerspielen. Eine Inszenierung, die sich vielen Theatergängern tief ins Gedächtnis eingegraben hat. Nach dem "Lear" von 2013 dagegen wird in ein paar Jahren vermutlich kein Schwein mehr pfeifen.
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