Die vereinsamte Generation
Die Schweizer Schriftstellerin Zoe Jenny sieht heutzutage keinen politisch engagierten Autor mehr wie Günter Grass. Die Diskussionskultur, die Grass mit seinen Kollegen verband, sei vollkommen abhanden gekommen.
Es brauche Mut, sich politisch zu äußern, sagt die Schweizer Autorin Zoe Jenny. Diesen Mut kann sie in ihrer Generation nicht erkennen: Diese sei zwar nicht vollkommen unpolitisch, aber doch sehr damit beschäftigt, für sich selbst zu sorgen. Günter Grass hingegen sei mit anderen Schriftstellern verbunden gewesen - in Freundschaft, aber auch Feindschaft: "Das wurde intensiv ausgelebt", sagt Jenny. "Meine Generation ist völlig vereinsamt." Es gebe keine Tendenz, sich zu verbinden.
Die Diskussionskultur, die Grass mit Kollegen gepflegt habe, sei "vollkommen abhanden" gekommen. Dies sei womöglich Ausdruck unserer Zeit: "Jede Generation hat die Schriftsteller, die sie verdient." Sie selbst, sagt Jenny, habe sich stets mehr für die Bücher von Günter Grass interessiert als für dessen politisches Engagement.
Das vollständige Interview im Wortlaut:
Dieter Kassel: Vor einer knappen Stunde haben wir mit dem deutsch-französischen Publizisten Alfred Grosser, Jahrgang 1925, über den gestern verstorbenen Günter Grass gesprochen. Jetzt wollen wir das mit Zoë Jenny tun: Sie ist Jahrgang 1974, wurde in Basel geboren, ist dort aufgewachsen und dann später auch unter anderem in Griechenland und in Tessin, hat als erwachsene Frau dann - ich will hier nicht die Reihenfolge beschwören, aber so ungefähr in dieser Reihenfolge - in Berlin, in New York, in London gelebt, in Indonesien, und inzwischen lebt sie in Österreich. Und wie international sie ist, merkt man auch an ihren Romanen. Sie schreibt natürlich als Deutsch-Schweizerin überwiegend auf Deutsch, hat aber zu ihrer Londoner Zeit auch den englischsprachigen Roman "The Sky is Changing" veröffentlicht. Schönen guten Morgen, Frau Jenny!
Dieter Kassel: Vor einer knappen Stunde haben wir mit dem deutsch-französischen Publizisten Alfred Grosser, Jahrgang 1925, über den gestern verstorbenen Günter Grass gesprochen. Jetzt wollen wir das mit Zoë Jenny tun: Sie ist Jahrgang 1974, wurde in Basel geboren, ist dort aufgewachsen und dann später auch unter anderem in Griechenland und in Tessin, hat als erwachsene Frau dann - ich will hier nicht die Reihenfolge beschwören, aber so ungefähr in dieser Reihenfolge - in Berlin, in New York, in London gelebt, in Indonesien, und inzwischen lebt sie in Österreich. Und wie international sie ist, merkt man auch an ihren Romanen. Sie schreibt natürlich als Deutsch-Schweizerin überwiegend auf Deutsch, hat aber zu ihrer Londoner Zeit auch den englischsprachigen Roman "The Sky is Changing" veröffentlicht. Schönen guten Morgen, Frau Jenny!
Zoë Jenny: Morgen!
Kassel: Alfred Grosser hat allen Ernstes bei uns zugegeben, dass er noch niemals in seinem Leben einen Roman von Günter Grass zu Ende gelesen hat, weil ihm das zu lang und auch zu langweilig war. Geht es Ihnen da ähnlich?
Jenny: Nicht ganz. Also ich kann es verstehen. Also "Der Butt", den schaffte ich auch nicht zu Ende, muss ich offen zugeben, "Die Blechtrommel" schon, und das finde ich eigentlich auch eines der wichtigsten Bücher. Ich glaube, es ist auch was, was bleiben wird. Also am Ende ist "Die Blechtrommel" wahrscheinlich das beeindruckendste Werk von Grass, also aus meiner Sicht.
Kassel: Was hat Sie an der "Blechtrommel" so besonders beeindruckt?
Jenny: Also schon die Idee, dass man eine Figur, dass die Hauptfigur ein Zwerg ist, ein Kind, das nicht erwachsen werden will, dass sich der Erwachsenenwelt vollkommen entzieht, und dass die ganze Geschichte erzählt wird aus dieser Perspektive, ist natürlich genialistisch. Also das ist großartig, diese Figur. Ich meine, ich kenne natürlich auch den Film, muss ich sagen, der hat mich auch sehr beeindruckt.
Ich finde, das ist eine der besten Literaturverfilmungen von Schlöndorff, die "Blechtrommel"-Verfilmung, und wie er singt und wenn er singt, gehen alle Scheiben kaputt, und also dieser Widerstand, dieser kleine Wicht, der sich gegen alles widersetzt - also großartig, eine großartige Figur und ich liebe sie, ich liebe diesen Oskar Matzerath.
Kassel: Würden Sie behaupten, dass Sie als Schriftstellerin in irgendeiner Form von Günter Grass beeinflusst wurden?
Weltliteratur gemacht
Jenny: Wahrscheinlich weniger. Also ich glaube, andere Autoren schon, die sich auch auf ihn bezogen haben, zum Beispiel Irving, der gesagt hat, er hätte, glaube ich, nicht geschrieben ohne "Die Blechtrommel", und auch Márques hat gesagt, er war sehr beeinflusst, also ich glaube, eher aus seiner Generation, Autoren seine Generation waren von ihm sehr beeinflusst. Also insofern glaube ich schon, ist er ein ... ja, hat er Weltliteratur gemacht, weil er eben auch andere beeinflusst hat, also überall auf der Welt.
Kassel: Wie haben Sie ihn denn in Ihrem Leben als politischen Menschen, als sich politisch in Deutschland und Europa einmischenden Menschen wahrgenommen?
Jenny: Ja, also sehr stark. Also er war ja ein ganz ... Er war ja der SPD beigetreten und hat sehr aktiv sich da eingesetzt und bis zum Schluss eigentlich immer wieder sich ja auch engagiert, politisch engagiert. Also ich habe da ein zwiespältiges Verhältnis dazu, auch, weil er natürlich, nachdem er den Nobelpreis bekommen hat, dann zugegeben hat, dass er als 17-Jähriger der Waffen-SS zugehörig war. Und das hat das Ganze ein bisschen für mich schon verändert, also ich finde das schon problematisch, dass er so lange da auch darüber nicht gesprochen hat oder nie was dazu gesagt hat. Es ist vielleicht verständlich, aber trotzdem: Von einem politisch engagierten Menschen hätte ich erwartet, dass er da vielleicht schon früher mal in seinem Leben aufgearbeitet hätte oder zugegeben hätte. Also es hat irgendwie für mich das Bild ein bisschen schon ...
Ja, also sagen wir jetzt mal: Die moralische Instanz, die er für sich in Anspruch genommen hat, die fand ich dann nicht mehr so glaubwürdig. Aber das hat auch etwas mit dieser Generation zu tun und auch vielleicht mit anderen Autoren, die für sich das so beanspruchen, diese moralische Instanz, also wenn sie eben politisch aktiv werden. Es ist dann sehr, ja, schwierig, durchzuhalten bis zum Ende offensichtlich.
Kassel: Sie haben das Wort Generation ja jetzt auch erwähnt. Vor dem Jahr 2006, als er seine Zeit bei der Waffen-SS dann zugegeben hat - war er denn für Sie so etwas wie eine politische Instanz, wie ein moralisches Gewissen? Oder haben Sie eher das Gefühl gehabt, das ist ein Thema für eine andere Generation?
"Ich würde mich nie einer Partei zugehörig fühlen"
Jenny: Ich glaube, dass meine Generation da sehr skeptisch ist. Also ich war da immer schon skeptisch, auch bei ihm, also es hat mich eigentlich auch nicht so interessiert, mich haben eigentlich eher die Bücher interessiert als sein politisches Engagement, obwohl ich auch sagen muss: Ich finde natürlich, dass ein denkender Mensch - und ein Schriftsteller, davon geht man aus, dass er ein denkender Mensch ist - immer auch ein politischer Mensch ist gleichzeitig.
Also ich empfinde mich auch so: Ich bin ja auch ein Bürger eines Landes und schaue mir die politische Situation an und denke darüber nach und schreibe auch mitunter darüber oder sage etwas dazu. Das gehört für mich irgendwie schon selbstverständlich auch dazu. Aber ich würde mich zum Beispiel nie einer Partei zugehörig fühlen. Also da ist für mich irgendwie dann die Grenze. Und ich glaube, die meisten sind heute viel zu skeptisch oder meine Generation ist viel skeptischer gegenüber auch, ja, vielleicht auch mutloser irgendwie, eine politische Aussage zu machen, vielleicht auch einen Irrtum damit zu begehen.
Also es hat ja auch, wie soll ich sagen, es braucht auch ein bisschen Mut natürlich, etwas zu sagen und vielleicht auch, damit falsch zu liegen. Also wenn man sich jetzt eben auf eine politische Ebene begibt als Schriftsteller, dann kann man ja durchaus auch Fehler machen, und ich glaube, da ist meine Generation wesentlich mutloser, als seine war, und vielleicht hat sie es auch nicht so notwendig, sich einzusetzen, weil es ihr vielleicht einfach auch zu gut geht oder weil sie nicht so betroffen ist von Schicksalsschlägen. Das hat sicher auch etwas damit zu tun. Also man ist ja auch ein Kind seiner Zeit und er war sicherlich ... Ja, eben, sein Leben ist ja auch ein Dokument dieser Zeit, in der er gelebt hat.
Kassel: Was Sie gerade ja auch bestätigt haben, was viele sagen, dass Figuren wie Grass, die auch diese gesellschaftliche, politische Rolle spielen, dass die wirklich aussterben, dass es die kaum noch gibt. Sie haben das teilweise auch begründet mit den Künstlern selber. Aber liegt das auch in der Gesellschaft, die so etwas von ihren Künstlern gar nicht mehr will heute?
"Jede Generation hat die Schriftsteller, die sie verdient"
Jenny: Also ich weiß nicht, ich glaube, es gibt schon ... Ich würde nicht sagen, dass meine Generation vollkommen unbewusst ist jetzt, also ich glaube, es gibt schon ein politisches Bewusstsein. Aber man ist einfach viel skeptischer, sich zu outen in dem Sinn, und man ist wahrscheinlich auch einfach vor anderem beschäftigt, für sich selbst zu sorgen. Es ist auch ein unglaublicher Egoismus natürlich, auch ein Narzissmus. Der, wie soll ich sagen, ist auch bedauerlich. Es ist in gewisser Weise auch bedauerlich, wie das sich auf sich selbst in seinen Elfenbeinturm zurückzieht. Es ist auch eine einsame Generation.
Ich meine, Grass privat, der war ja verbunden mit anderen Schriftstellern, da gab es ja Freundschaften, Feindschaften, da wurde irgendwie was intensiv ausgelebt, da gab es die Gruppe 47 zum Beispiel. Und solche Verbindungen gibt es heute ja nicht. Also ich empfinde meine Generation als vollkommen vereinsamt. Die sind alle mit sich selbst beschäftigt und auf ihren eigenen Planeten unterwegs sozusagen, auf verschiedenen Umlaufbahnen. Und da gibt es keine in dem Sinne Richtung oder Tendenz, sich zu verbinden oder Themen zu besprechen, zu diskutieren. Auch diese Diskussionskultur, die wahrscheinlich Grass hatte mit seinen Kollegen, die ist vollkommen abhandengekommen.
Wie gesagt, das kann ich auch bedauern, ist bedauerlich, es ist natürlich auch schade, aber vielleicht ist das einfach auch ein Ausdruck unserer Zeit. Jede Generation hat die Schriftsteller, die sie verdient.
Kassel: Das ist eine schöne Aussage. Vielleicht vertiefen wir das bei anderer Gelegenheit. Für heute vielen Dank, Zoë Jenny war das.
Jenny: Danke schön!
Kassel: Danke Ihnen fürs Gespräch!
Jenny: Wiederhören! Zoë Jenny war das, Schriftstellerin aus der Schweiz mit vielen Wohnorten, über Günter Grass und das, was sich auch verändert hat inzwischen im Literaturbetrieb.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.