"Die Griechenland-Hetze hat bei uns angefangen"
Der ehemalige EU-Kommissar Günter Verheugen fordert eine "andere Sprache" in den Debatten über Griechenland und kritisiert damit auch die Medien. "Wir kommen überhaupt nicht weiter mit irgendwelchen Schuldzuweisungen", sagte er im Deutschlandradio Kultur.
Der SPD-Politiker und ehemalige EU-Kommissar Günter Verheugen hat an die Staats- und Regierungschefs der Euro-Zone appelliert, Griechenland auch nach der Ablehnung der Sparvorgaben durch das Referendum nicht fallen zu lassen.
Im Deutschlandradio Kultur sagte Verheugen, es sei jetzt Zeit für einen Neuanfang. Das "Gewürge" der letzten fünf Jahre dürfe nicht noch einmal von vorn anfangen. Die an den Verhandlungsprozessen beteiligten Politiker forderte Verheugen auf, rhetorisch abzurüsten. Die gegenseitigen Schuldzuweisungen hätten das Klima in Europa vergiftet.
Die Staats- und Regierungschefs müssten in dieser Woche klar machen, dass man Europa zusammenhalten werde, forderte Verheugen - "und zwar einmütig und in einer Art und Weise, die keinen Zweifel offen lässt." Dieses Signal sei unbedingt notwendig. Denn die Welt außerhalb Europas habe nur eine Sorge: "Was bedeutet es, dass die Europäer mit einem solchen Problem nicht fertig werden können?"
Ohne einen Schuldenschnitt wird es nicht gehen
Verheugen sprach sich deutlich gegen einen Grexit aus. Reformen in Griechenland dürften dort nicht den sozialen Zusammenhalt zerstören, warnte er. Man könne eine Volkswirtschaft nicht in zwei Jahren auf einen Kurs bringen, der die Fehler von Jahrzehnten korrigiere.
Deswegen müsse jetzt die Erkenntnis reifen, dass man es mit einem langfristigen Prozess und dementsprechend auch langfristiger Hilfe zu tun habe: "Wir reden nicht über Jahre, wir reden über Jahrzehnte." Ohne einen größeren Schuldenverzicht werde es nicht gehen, betonte er. Die Schulden könnten niemals in voller Höhe zurückgezahlt werden.
"Wollen wir wirklich soweit kommen, dass wir über humanitäre Hilfe für ein Land reden, das seit über 30 Jahren Mitglied der Europäischen Union ist? Humanitäre Hilfe – verstehen Sie, was das heißt? Wir nehmen einfach schon hin, wenn wir darüber reden, dass das kommt, dass ein Mitgliedsland der Europäischen Union ins Elend absinkt", so Verheugen.
"Ganz egal, welche Fehler die (Griechen) gemacht haben – wir sind an einem Punkt, wo erst einmal geholfen werden muss", sagte er.
Das Interview mit Günter Verheugen im Wortlaut:
Dieter Kassel: Am Morgen nach dem Referendum in Griechenland, das, anders, als es die Umfragen vorher erwarten ließen, relativ eindeutig zu Ende ging. 61,31 Prozent der Griechen, die an dieser Abstimmung teilnahmen, votierten mit Nein, und insofern hatte natürlich gestern in Athen die Nein-Fraktion einigen Grund zum Feiern, aber selbst bei denen mischte sich in diese Feierlichkeit doch auch einiges an Nachdenklichkeit. Wolfgang Landmesser berichtet aus Athen.
Einspielung
Reaktionen gestern in Athen, nachdem klar wurde, dass über 61 Prozent der Stimmberechtigten gestern im Referendum mit Nein stimmten. Wie es dazu kommen konnte und was das jetzt für Griechenland, aber auch für Europa bedeutet, darüber wollen wir mit Günter Verheugen reden, ehemaliger EU-Kommissar. Wir erwischen ihn heute Morgen in Wien. Schönen guten Morgen, Herr Verheugen!
Günter Verheugen: Ja, schönen guten Morgen!
Kassel: Gehe ich recht in der Annahme, dass Ihnen, nachdem Sie gestern Abend das Ergebnis erfahren haben, nicht zum Feiern zumute war?
Verheugen: Nein, überhaupt nicht. Obwohl ich sagen muss, es ist das, was zu erwarten war. Umfragen liegen ja in letzter Zeit notorisch schief, was die Ergebnisse von Wahlen und Abstimmungen angeht. Ich glaube, jedem, der die Situation verfolgt hat, musste klar sein, dass die große Mehrheit der Griechen der Regierung folgt in der Aussage "Genug ist genug".
Kassel: Dass es nun so weit gekommen ist, dass es überhaupt diese Art von Referendum gab und dass es so ausging. Wer hat denn Ihrer Meinung nach Schuld? Die jetzige griechische Regierung, das griechische Volk gar, oder doch auch die Verhandlungspartner in Europa?
Verheugen: Ich schlage vor, dass wir den Begriff Schuld überhaupt nicht verwenden.
Kassel: Das hatte ich befürchtet, ich habe es aber, ehrlich gesagt, absichtlich getan.
"Wir kommen überhaupt nicht weiter mit irgendwelchen Schuldzuweisungen"
Verheugen: Ja, ich weiß. Aber wir kommen überhaupt nicht weiter mit irgendwelchen Schuldzuweisungen. Wir können über Verantwortung reden. Verantwortung haben hier sehr, sehr viele. Natürlich die Griechen selber, natürlich die Europäische Union, die Kommission, ganz besonders viel Verantwortung haben die Finanzminister. Ich denke, eine ganze Menge von Verantwortung liegt auch bei uns selber, in Deutschland. Aber es hat überhaupt keinen Zweck, das jetzt mathematisch aufteilen zu wollen, sondern es ist der Punkt erreicht, wo wir sagen müssen: Es kann und darf nicht noch einmal von vorne anfangen jetzt, dieses ganze Gewürge der letzten Jahre, nicht noch einmal.
Ich teile hundertprozentig die Auffassung zweier bedeutender ehemaliger Kommissionspräsidenten, die sich gestern geäußert haben, Jacques Delors und Romano Prodi, die beide sagen, Stopp jetzt, Zeit für einen Neuanfang. Und wenn ich einen Vorschlag machen darf, der Neuanfang sollte damit anfangen, dass wir uns einer anderen Sprache befleißigen.
Was ich zum Beispiel diese Nacht vom Generalsekretär der CDU gehört habe, das ließ mir kalte Schauer den Rücken herunterlaufen. Das ist genau die Sprache, die die Atmosphäre in Europa so vergiftet, dass wir inzwischen ja Sorge haben müssen nicht nur darum, wie es in Griechenland weitergeht, sondern wir müssen Sorge darum haben, ob das große europäische Einigungswerk überhaupt noch standhält.
Kassel: Aber Herr Verheugen, wenn wir jetzt ...
Verheugen: Entschuldigung, wenn ich etwas emotional bin an dieser Stelle, aber ...
Kassel: Dafür müssen Sie sich überhaupt nicht entschuldigen, ich bin bemüht, das selbst nicht zu sein.
Verheugen: Es geht hier nicht um Banken und um Schulden. Wir reden über die Zukunft eines ganzen Kontinents.
Kassel: Aber wenn wir jetzt gerade über die Sprache reden, die verwendet wird in dieser Angelegenheit, wenn nun aber andererseits, und wir wissen beide, das ist ja mehrfach geschehen, mindestens zweimal, der griechische Finanzminister von "Terrorismus" redet, seine Verhandlungspartner als Terroristen –
Verheugen: Ja, ich meine auch beide Seiten.
"Wir nehmen einfach hin, dass EU-Mitgliedsland ins Elend absinkt"
Kassel: Sie meinen beide Seiten. Aber wie will man da auch mal menschlich – Sie reden selber von Ihrer Emotionalität. Politiker sind ja auch Menschen, auch sehr erfahrene, hochrangige Politiker. Wie will man da jetzt noch runter, wie will jemand, der als Terrorist bezeichnet wurde, mit dem, der ihn so bezeichnet hat, weiter verhandeln?
Verheugen: Also dass diese Bezeichnung unpassend ist, das versteht sich von selbst. Dass Bezeichnungen, die speziell hier in Deutschland gewählt worden sind, auch sehr unpassend sind, brauche ich nicht zu sagen. Und wenn wir schon darüber reden, wer hat was angefangen, dann gehört es zur Wahrheit, dass die Griechenland-Hetze bei uns angefangen hat. Und deshalb haben wir eigentlich wenig Grund, auf andere mit dem Finger zu zeigen. Aber selbstverständlich kann man von erwachsenen Politikern verlangen, dass sie sich besinnen, dass sie innehalten und dass sie merken, dass der eingeschlagene Weg so nicht weitergeht.
Vielleicht ist es aber sinnvoll, mal einen Augenblick darüber nachzudenken, was denn jetzt überhaupt gemacht werden kann. Und ich will noch einmal wiederholen: Nicht noch einmal diese hektische ..., dieses Hin und Her, dieses Abschieben der Politik auf Beamte, dieses Ignorieren der Wirklichkeit.
Wissen Sie, diese ganze Geschichte hat eine menschliche Dimension, die wir nicht ignorieren dürfen. Wenn man dieses Bild gesehen hat von dem weinenden Rentner, der da vor der Bank saß. Weiß der Henker, warum er unbedingt Geld brauchte, das er nicht bekommen hat. Man sah, diesem Mann war sein Leben zerbrochen. Und so gibt es viele in Griechenland. Und da muss ich wirklich sagen, an dieser Stelle hört es auf, darüber zu reden, wer hat wann was gemacht oder was getan.
Wollen wir wirklich so weit kommen, dass wir über humanitäre Hilfe für ein Land reden, dass seit über 30 Jahren Mitglied der Europäischen Union ist? Humanitäre Hilfe – verstehen wir, was das heißt: Wir nehmen einfach schon hin, wenn wir darüber reden, dass das kommt, dass ein Mitgliedsland der Europäischen Union ins Elend absinkt. Ganz egal, was für Fehler die gemacht haben, wir sind an einem Punkt, wo erst einmal geholfen werden muss, so. Punkt eins.
Und Punkt zwei: Die Staats- und Regierungschefs müssen – und jetzt rede ich nicht über Griechenland, jetzt rede ich über unsere Zukunft – die Staats- und Regierungschefs müssen in dieser Woche klar machen, und zwar einmütig und wirklich in einer Art und Weise, die keinen Zweifel offen lässt, in Washington nicht, in Moskau nicht, in Peking nicht, in der ganzen Welt nicht: Wir werden dieses Europa zusammenhalten, wir werden diese Europäische Union zusammenhalten, wir werden diese Eurozone zusammenhalten. Und wir werden nicht zulassen, dass wir auseinanderfallen. Dieses Signal ist unbedingt notwendig, denn die Welt draußen, ich darf Ihnen das mal sagen, die Welt draußen, die fragt nicht "Was ist denn das da für ein Problem zwischen Athen und Berlin?", sondern überall um uns herum gibt es nur eine einzige Sorge: Was bedeutet es, dass die Europäer mit einem solchen Problem nicht fertig werden können, was bedeutet das für die Zukunft der europäischen Integration, und was bedeutet das für die Zukunft der Beziehungen der übrigen Welt mit uns?
"Kann man eine Volkswirtschaft in zwei Jahren auf Kurs bringen?"
Kassel: Herr Verheugen, Sie betonen ja, es darf nicht so weiter gehen wie bisher, und ich glaube, da wird Ihnen erst mal niemand widersprechen. Aber Worte und Taten sind ja verschiedene Dinge. Ich meine, was steht jetzt an? Es gibt morgen den nächsten EU-Gipfel, aber letzten Endes sind wir doch genauso weit, wie wir es neulich schon waren. Es geht um ein neues, ein drittes Hilfsprogramm. Und die eine Seite wird wieder sagen, dazu brauchen wir mehr Reformen, und die andere wird möglicherweise nicht genug Reformen anbieten. Wenn es nicht so traurig wäre, müsste man sagen: Und täglich grüßt das Murmeltier.
Verheugen: Was Sie jetzt gerade gesagt haben, ist zwar vielleicht realistisch, ich will das nicht bestreiten. Aber es ist präzise das, was nicht passieren darf. Wenn das Referendum überhaupt einen Sinn gehabt haben soll, dann kann es ja nur den Sinn haben, dass die Verantwortlichen sich fragen, was ist eigentlich falsch gelaufen, wie sind wir dahin gekommen, dass ein Volk mit so großer Mehrheit sagt "So geht es nicht"? Haben wir vielleicht doch das Unmögliche verlangt? Auf jeden Fall müssen Sie sich mal fragen, ob die zugrundeliegenden Annahmen richtig waren. Kann man eine Volkswirtschaft in zwei Jahren auf einen Kurs bringen, der die Fehler von Jahrzehnten korrigiert? Und die Antwort lautet Nein, das kann man nicht.
Das heißt also, die Erkenntnis muss jetzt reifen, dass wir es erstens mit einem langfristigen Prozess zu tun haben. Wir reden nicht über Jahre, wir reden über Jahrzehnte. Und die Erkenntnis muss reifen, dass es ohne einen größeren Verzicht, einen größeren Schuldenverzicht nicht gehen wird. Glaubt ja eh kein Mensch und weiß ja jeder, dass diese Schulden niemals in voller Höhe zurückgezahlt werden können, - niemals in voller Höhe zurückgezahlt werden können.
Und jetzt muss man dazwischen einen Weg finden, und das verbinden selbstverständlich mit Reformen in Griechenland, aber solchen, die nicht den sozialen Zusammenhalt des ganzen Landes zerstören, und solchen – und da hat bisher niemand eine brauchbare Idee gehabt, muss ich leider sagen, wenn ich sie hätte, würde ich sie Ihnen jetzt gerne sagen – solchen, die dazu führen, dass dieses Land im internationalen Wettbewerb wettbewerbsfähig wird. Das ist es nämlich nicht. Und deshalb habe ich gesagt, wir reden über einen langfristigen Prozess, und damit mir niemand den Vorwurf macht, ich rede um die Wahrheit herum: Langfristiger Prozess heißt langfristige Hilfe.
Kassel: Günter Verheugen, ehemaliger EU-Kommissar, über das Referendum in Griechenland und die Folgen, die es idealerweise haben sollte, und auch die, die es vielleicht haben wird. Herr Verheugen, ich danke Ihnen sehr für das Gespräch!
Verheugen: Danke schön!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.