Günther Rühle: "Ein alter Mann wird älter: Ein merkwürdiges Tagebuch"
Mit einem Nachwort von Gerhard Ahrens
Alexander Verlag, 2021
232 Seiten, 22,90 Euro
Wenn die Wirklichkeit verschwimmt
12:04 Minuten
Er hatte Großes vor. Doch den dritten Band von "Theater in Deutschland" kann der ehemalige "FAZ"-Feuilletonchef Günther Rühle wegen seiner Erblindung nicht fertigstellen. In "Ein alter Mann wird älter" gibt er Einblicke in seine neblig werdende Welt.
Sein Leben lang hat er sich durch die Arbeit definiert. War Feuilletonchef der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" (FAZ) und Theaterintendant in Frankfurt am Main.
Er hat das Werk von Alfred Kerr herausgegeben und viele Bücher geschrieben, darunter das zweibändige Standardwerk zu "Theater in Deutschland": von der Kaiserzeit bis 1966. Die Arbeit am dritten Band, der die Jahre 1966 – 1995 betrachtet, musste Günther Rühle jetzt einstellen.
Der Blick wird immer trüber
Das Lesen falle ihm immer schwerer und das Schreiben "mit überalterten Augen, denen die Wirklichkeit zerschwimmt" wird unmöglich", sagt Rühle. In "Ein alter Mann wird älter – ein merkwürdiges Tagebuch", das gerade im Alexander Verlag erschienen ist, beschreibt der jetzt 97-Jährige die Mühen des Alters.
"Ich treibe in eine Landschaft voller Nebel", so Rühle. "Er wird von Morgen zu Morgen dichter. Ich habe schon ein eigenes Mess-System. Wie viele der kleinen Fliesen im Bad sehe ich noch. Ich verliere die Kontrolle über die Zeit. Die Uhren im Haus versinken im Nebel."
Noch reiche es für die Stufen der Treppe. Doch wie lange noch? "Ich lebe immer mehr von den eingeübten Wegen, Schritten. Ich messe Räume und Entfernungen immer mehr aus Einübung und Wohlgefühl. Spinne ich, träume ich oder sehe ich nur anders. Mit überalterten Augen, denen die Wirklichkeit zerschwimmt." Und deren Weitblick von einst jetzt nur noch "für fünf geparkte Autos am Straßenrand" reicht.
Schwacher Körper – elastischer Geist
Für den Kritiker Thorsten Jantschek ist dieser Band in seiner Eindringlichkeit eine "Existenzpartitur" im doppelten Sinn: Erstmals denke Rühle darin über sich selbst nach. Es entstehe ein Text, "der die Existenz wörtlich nimmt": mit Blick auf den schwächer werdenden Körper einerseits, aber unter Beweisstellung eines noch immer reflektierenden, elastischen, sich erinnernden Geistes.
Rühle beschreibe das Lebensgefühl der Älteren so unmittelbar und berührend, dass beim Lesen theatrale Bilder entstünden: Rühle, der alte Mann als "Beckett-Gestalt im Nebel". Im Beschreiben des Alltags des alten Mannes entstehe so mitunter "richtige Literatur" voller poetischer Beschreibungen. Mit Sätzen wie: "Das war wie ein Echo aus dem grünen Urwald des Lebens in mein vertrocknetes Dickicht."
Selbsterkundung und Erkundung der Zeitläufte
Dabei gelinge es Rühle, die "Selbsterkundungen immer auch zu einer Erkundung der Zeitläufte" zu machen, so Jantschek.
Rühle beschreibt seine Arbeit bei der "FAZ" und seinen Rollenwechsel vom Kritiker zum Intendanten des Frankfurter Schauspiels. Dort "entdeckte" er den Schauspieler Martin Wuttke.
"Erste Generalprobe: Ist man noch Kritiker für Eigengefertigtes? Man spürt: Man sieht doch anders. Als Kritiker spürt man sich in den Widerstand, der überwunden werden will", schreibt Rühle.
Und weiter: "Als Intendant: Hoffentlich geht’s gut. Was macht Wuttke als Ersatzmann für den ausgefallenen Hamlet? Man erregt sich anders als Kritiker. Der hat sein Register von 'toll' bis 'denen werd ich’s geben'. Der Intendant zittert der Lautstärke vom Applaus entgegen. Wir hatten Glück: Gleich eine Entdeckung: Wuttke wurde 'Wuttke'".