Guido Tonelli: "Chronos"

Die Zeit, das große Rätsel

05:50 Minuten
Cover von Guido Tonellis Buch "Chronos. Eine physikalische Reise zu den Ursprüngen der Zeit". Dort ist neben der Schrift eine stilisierte historische Uhr zu sehen.
© C.H. Beck

Guido Tonelli

Aus dem Italienischen von Enrico Heinemann

Chronos. Eine physikalische Reise zu den Ursprüngen der ZeitC.H. Beck Verlag, München 2022

255 Seiten

26,00 Euro

Von Gerrit Stratmann · 07.10.2022
Audio herunterladen
Zeit lässt sich dank immer genauerer Uhren unglaublich präzise messen. Aber was Zeit eigentlich ist, darüber rätselt die Physik bis heute. Der Teilchenphysiker Guido Tonelli nähert sich in einem facettenreichen Buch dem Phänomen.
In der Cappella degli Scrovegni in Padua ist auf einem Fresko das Jüngste Gericht dargestellt. An der Stirnwand knapp unter der Decke rollen zwei Engel den Himmel ein wie einen Teppich. Die Welt endet, und mit ihr die Ära von Raum und Zeit, wie wir sie kennen.
Hatte die Zeit einen Anfang? Wird sie enden? Kann sie stillstehen oder rückwärtslaufen? Kaum vorstellbar für Wesen wie uns, die in unserer gemütlichen Ecke des Universums mit den gleichförmigen Rhythmen von Stunde, Tag und Jahr leben und sterben.
Auf unserer Insel der Ruhe, auf der sich Leben auf der Erde entwickeln konnte, bekommen wir von den Verhältnissen, wie sie anderswo im Kosmos herrschen, wenig mit. Die ungeheuren Kräfte im Innern schwarzer Löcher sprengen unsere Vorstellungskraft. In ihrem Höllenschlund geraten die bekannten Gesetze der Physik ins Wanken. Ihre Gravitation verändert selbst den Fluss der Zeit.

Für Elektronen existiert die Zeit nicht

Auch in der Welt des Allerkleinsten herrschen Verhältnisse, die unserer Alltagserfahrung verschlossen bleiben. Atombausteine wie Protonen und Elektronen zeigen keinerlei Alterserscheinungen. Der normale Zyklus von Geburt und Tod scheint nicht für sie zu gelten. Nach allem, was wir bislang wissen, scheint die Zeit für sie nicht zu existieren.
Was also ist die Zeit? Hat sie eine eigene Existenz oder ist sie eine Illusion?
Guido Tonellis Buch tastet sich aus verschiedenen Richtungen an das Phänomen der Zeit heran. Als Kernphysiker betrachtet Tonelli die Zeit natürlich auch aus physikalischer Sicht, blickt in die Weiten des Kosmos mit seinen relativistischen Effekten und in die Tiefen der Quantenwelt, in der Raum und Zeit sich auflösen. Aber ebenso führt sein Buch durch Mythen und Kunstwerke, durch Musik und Literatur, zur Entstehung unseres Zeitsinns und zu den Methoden der Zeitmessung.

Von der Physik bis zur Kunst

Seine essayistische Betrachtungsweise beleuchtet spielerisch und kenntnisreich verschiedenste Facetten der Zeit und macht uns en passant mit Theorien wie der Schleifen-Quanten-Gravitation bekannt, in der die Zeit für die grundlegende Beschreibung unserer Welt keine Rolle spielt – als wäre sie kein fundamentaler Baustein unseres Universums, sondern nur eine Begleiterscheinung.
Auch wenn „Chronos“ keine endgültigen Antworten zur Natur der Zeit bieten kann, hat Tonelli faszinierende Pfade für die Leserinnen und Leser ausgelegt. Ihnen zu folgen, ist keine verschwendete Zeit, sondern ein kurzweiliges und anregendes Vergnügen.
Mehr zum Thema