Guido und die "Dekadenz"
Auf dem Dreikönigstreffen der Freien Demokraten hätte man es bereits ahnen können. Guido Westerwelle kündigte eine geistig-politische Wende an. Leistung müsse sich wieder lohnen, trompetete der frisch gekürte Vizekanzler, der sich gern für einen Wirtschaftsexperten hält. Und: "Wir müssen dringend darüber reden, welche Aufgaben der Staat hat".
Mühsam hatten er und seine Liberalen erreicht, dass in den Koalitionsvertrag Steuererleichterungen hineingeschrieben wurden, für die - wie er nicht müde wird zu betonen – Leistungsträger in diesem Land. Beispielsweise die Hotelbesitzer und Gastwirte. Kaum jemand wollte das so eigentlich verstehen und auch nicht, dass es da mit rechten Dingen zuging oder so ein sinnvoller Beitrag zur Bewältigung der größten Wirtschaftskrise seit 80 Jahren geleistet wurde.
Nicht wenige waren eher konsterniert über so viel ziellosen Unernst. Von Steuergeschenken an ausgewählte Klienten war plötzlich, und nicht nur an Stammtischen, die Rede. Hatte die FDP von vorgenannter Zielgruppe nicht erst kürzlich eine stattliche Spendensumme auf ihr Konto überwiesen bekommen?
Und dann fiel auf jenem Dreikönigstreffen plötzlich das Wort, das alle Aussicht auf eine Karriere zum künftigen Unwort des Jahres hat: "Dekadenz". Wer von Steuergeschenken rede, so Deutschlands oberster Liberaler, der habe eben leider ein "dekadentes Staatsverständnis". Nicht der Staat schenke dem Bürger Geld. Nein, beileibe nicht. Umgekehrt werde ein Schuh daraus. Es sei der Bürger, der den Staat durch seine Steuern aushalte.
Wenig später nahten die närrischen Tage und der smarte Rechtsanwalt aus dem Rheinland geriet erst so richtig in Fahrt. Westerwelle trat diesmal nicht, wie noch vor Jahren, mit einer goldenen 18 unter seinen Schuhsohlen lustig aus seinem Guidomobil und rief: "Alaaf!" Er wurde bedenklich.
Ein Gespenst geht um in Deutschland, ließ er die warnende Stimme vernehmen, und es hat nicht nur Linken, Sozialdemokraten und Schlawinern, sondern selbst großen Teilen des christdemokratischen Wunschpartners die Köpfe vernebelt: der "geistige Sozialismus".
Und sogleich fiel es wieder, das bedeutungsvolle Wort. "Wer dem Volk anstrengungslosen Wohlstand verspricht, lädt zu spätrömischer Dekadenz ein", verkündete unser letzter überlebender Chefideologe: "An einem solchen Denken kann Deutschland scheitern". Der Mantel der Geschichte umwehte ihn, und man nimmt es ihm fast übel, dass er nicht auch noch die unheilverkündende Seherin Kassandra zitierte. Schauderhaft! Brot und Spiele! Ein Volk von Hartz-IV-Empfängern träumt davon, täglich wie römische Kaiserinnen in der Milch von 300 Eseln zu baden und anschließend das Gastmahl des Trimalchio nachzuprassen!
Doch schon vor Aschermittwoch war es mit dem Spaß vorbei. Heiner Geißler erinnerte den dilettierenden Polyhistor nüchtern daran, dass Rom nicht an den übermäßigen Ansprüchen der Plebs, sondern an den zerfallenden Sitten seiner Oberschichten zugrunde gegangen war. Also jener Leute, die schon damals den Staat eher ungern aushalten wollten.
Hartz-IV-Empfänger von heute mit der römischen Plebs zu vergleichen, ist nicht nur eine unerträgliche Geschichtsklitterung, sondern eine glatte Unverschämtheit. Arbeitslosigkeit ist weder ein überkommenes Privileg wie im alten Rom noch ein Naturereignis. Millionen sind ihr hilflos ausgeliefert, weil unser Wirtschaftssystem eben nicht, wie Pangloss Westerwelle sich selbst und den happy few in seinem Umfeld weismachen will, die beste aller Welten darstellt. Es bedarf, was nicht zuletzt die große Krise gezeigt hat, erheblicher staatlicher Nachhilfe, um den Zauberlehrling namens freier Markt zu bändigen.
Ich glaube kaum, dass es eine nennenswerte Zahl von Menschen in diesem Lande gibt, die nicht arbeiten und etwas leisten wollen. Aber ich bin sehr geneigt zu glauben, dass Guido Westerwelle und seine liberalen Freunde um keinen Preis unbefangen über die wirklichen Probleme nachdenken wollen. Sie wollen ideologisieren.
Leider ist ihre Ideologie, die zu Zeiten Margaret Thatchers und George W. Bushs en vogue war, heute schon wieder etwas outdated. Und Westerwelle muss aufpassen, dass er es nicht auch bald ist.
Rolf Hosfeld, Publizist, Autor, Lektor und Filmemacher, geboren am 22. Juni 1948 in Berleburg (NRW), studierte Germanistik, Philosophie und Politikwissenschaften. Hosfeld lebt als freier Autor und Filmemacher auf dem Land bei Potsdam.
Nicht wenige waren eher konsterniert über so viel ziellosen Unernst. Von Steuergeschenken an ausgewählte Klienten war plötzlich, und nicht nur an Stammtischen, die Rede. Hatte die FDP von vorgenannter Zielgruppe nicht erst kürzlich eine stattliche Spendensumme auf ihr Konto überwiesen bekommen?
Und dann fiel auf jenem Dreikönigstreffen plötzlich das Wort, das alle Aussicht auf eine Karriere zum künftigen Unwort des Jahres hat: "Dekadenz". Wer von Steuergeschenken rede, so Deutschlands oberster Liberaler, der habe eben leider ein "dekadentes Staatsverständnis". Nicht der Staat schenke dem Bürger Geld. Nein, beileibe nicht. Umgekehrt werde ein Schuh daraus. Es sei der Bürger, der den Staat durch seine Steuern aushalte.
Wenig später nahten die närrischen Tage und der smarte Rechtsanwalt aus dem Rheinland geriet erst so richtig in Fahrt. Westerwelle trat diesmal nicht, wie noch vor Jahren, mit einer goldenen 18 unter seinen Schuhsohlen lustig aus seinem Guidomobil und rief: "Alaaf!" Er wurde bedenklich.
Ein Gespenst geht um in Deutschland, ließ er die warnende Stimme vernehmen, und es hat nicht nur Linken, Sozialdemokraten und Schlawinern, sondern selbst großen Teilen des christdemokratischen Wunschpartners die Köpfe vernebelt: der "geistige Sozialismus".
Und sogleich fiel es wieder, das bedeutungsvolle Wort. "Wer dem Volk anstrengungslosen Wohlstand verspricht, lädt zu spätrömischer Dekadenz ein", verkündete unser letzter überlebender Chefideologe: "An einem solchen Denken kann Deutschland scheitern". Der Mantel der Geschichte umwehte ihn, und man nimmt es ihm fast übel, dass er nicht auch noch die unheilverkündende Seherin Kassandra zitierte. Schauderhaft! Brot und Spiele! Ein Volk von Hartz-IV-Empfängern träumt davon, täglich wie römische Kaiserinnen in der Milch von 300 Eseln zu baden und anschließend das Gastmahl des Trimalchio nachzuprassen!
Doch schon vor Aschermittwoch war es mit dem Spaß vorbei. Heiner Geißler erinnerte den dilettierenden Polyhistor nüchtern daran, dass Rom nicht an den übermäßigen Ansprüchen der Plebs, sondern an den zerfallenden Sitten seiner Oberschichten zugrunde gegangen war. Also jener Leute, die schon damals den Staat eher ungern aushalten wollten.
Hartz-IV-Empfänger von heute mit der römischen Plebs zu vergleichen, ist nicht nur eine unerträgliche Geschichtsklitterung, sondern eine glatte Unverschämtheit. Arbeitslosigkeit ist weder ein überkommenes Privileg wie im alten Rom noch ein Naturereignis. Millionen sind ihr hilflos ausgeliefert, weil unser Wirtschaftssystem eben nicht, wie Pangloss Westerwelle sich selbst und den happy few in seinem Umfeld weismachen will, die beste aller Welten darstellt. Es bedarf, was nicht zuletzt die große Krise gezeigt hat, erheblicher staatlicher Nachhilfe, um den Zauberlehrling namens freier Markt zu bändigen.
Ich glaube kaum, dass es eine nennenswerte Zahl von Menschen in diesem Lande gibt, die nicht arbeiten und etwas leisten wollen. Aber ich bin sehr geneigt zu glauben, dass Guido Westerwelle und seine liberalen Freunde um keinen Preis unbefangen über die wirklichen Probleme nachdenken wollen. Sie wollen ideologisieren.
Leider ist ihre Ideologie, die zu Zeiten Margaret Thatchers und George W. Bushs en vogue war, heute schon wieder etwas outdated. Und Westerwelle muss aufpassen, dass er es nicht auch bald ist.
Rolf Hosfeld, Publizist, Autor, Lektor und Filmemacher, geboren am 22. Juni 1948 in Berleburg (NRW), studierte Germanistik, Philosophie und Politikwissenschaften. Hosfeld lebt als freier Autor und Filmemacher auf dem Land bei Potsdam.