Guido Zurstiege: "Taktiken der Entnetzung. Die Sehnsucht nach Stille im digitalen Zeitalter"
Suhrkamp, Berlin 2019
297 Seiten, 18 Euro
Den digitalen Medien entfliehen
05:43 Minuten
Immer mehr Menschen versuchen, sich der Allgegenwärtigkeit digitaler Medien zu entziehen. Wie und mit welchen Taktiken diese "Sehnsucht nach Stille" befriedigt wird, analysiert der Medienwissenschaftler Guido Zurstiege.
Smartphone-freie Zeiten, überklebte Laptop-Webcams, eine Renaissance von Notizbüchern und der Vinylschallplatte: Immer mehr Menschen entziehen sich der Allgegenwärtigkeit digitaler Medien, zumindest zeitweise. Guido Zurstiege hält das für einen wichtigen Trend. Die Fähigkeit zur Ent-Netzung sei eine Grundbedingung für die Selbstbehauptung und Selbstbestimmung des Individuums, meint der Medienwissenschaftler. Und plädiert dafür, die Nichtnutzung von digitalen Medien intensiver zu erforschen als bisher.
Ein Anspruch, der neugierig macht
Sein Buch will die Wissenschaft um eine Perspektive erweitern, lautet folgerichtig der selbst gestellte Anspruch des Tübinger Professors. Das macht neugierig. Auch der Titel verspricht Neues darüber, wie sich vielleicht beides verbinden lässt: digitale Technik zu nutzen und sie, wenn man möchte, einfach zu ignorieren. Guido Zurstiege trifft damit den Nerv der Zeit. Die Frage, was die Gesellschaft und der Einzelne der Übermacht der Digitalkonzerne und deren Vernetzungs- und Überwachungspraktiken entgegensetzen kann, ist schlicht hochaktuell.
Umso größer die Enttäuschung. Leider bleibt es bei einer Zusammenfassung von allseits Bekanntem. Neue Erkenntnisse sind Mangelware, selbst wenn es um das eigentliche Thema des Buches geht, die "Taktiken der Entnetzung". Drei "Szenarien" benennt der Medienwissenschaftler, mit denen sich User entkoppeln können. Den radikalen Schnitt, also die völlige Abkehr von Smartphone und Computer. Zweitens durch Selbstregulierung, indem sie bestimmte digitale Angebote bewusst auslassen. Und drittens durch einen temporären Verzicht, viel gepriesen auch als "digitales Fasten".
Es fehlen Studien und Zahlen
Doch ist das allein schon "kommunikative Selbstbestimmung", um die es Guido Zurstiege ja eigentlich geht? Welche Wirkung haben diese Taktiken und wie viele Menschen praktizieren sie überhaupt? Hier wären Zahlen und Studien interessant gewesen genauso wie ein eigener theoretischer Ansatz des Autors. Stattdessen liefert er Allgemeinplätze und wälzt das Thema noch zusätzlich mit einer "autoethnischen" Beispielsammlung aus, also mit Alltagsgeschichten aus dem Freundes- und Kollegenkreis, die über den Erfahrungshorizont eines durchschnittlichen Mediennutzers nicht hinausgehen.
Auch andere Fragen lässt der Medienwissenschaftler unbeantwortet. Etwa, wenn er überblicksartig die wichtigsten "Apostel der Entnetzung" zitiert – von Virtual Reality-Pionier Jaron Lanier bis hin zum ehemaligen Google-Vordenker Tristan Harris. Die würden zwar inzwischen öffentlichkeitswirksam vor den Gefahren der Digitalisierung warnen. Letztlich, so kritisiert Guido Zurstiege zu Recht, aber nur die Nutzer adressieren und damit in der Logik der Plattformökonomie bleiben. Von ebendieser kann sich aber auch Zurstiege selbst nicht lösen. Denn hier versäumt er es, politische Ansätze etwa zum Datenschutz oder zur Plattformregulierung weiterzudenken.
Sein Buch fällt damit hinter die Debatte zurück. Schade. Die Digitalisierung kann nur in Kombination aus individuellen und gesamtgesellschaftlichen Strategien gestaltet werden. Zu beidem hätte man gern mehr erfahren.