Gulwali Passarlay: "Am Himmel kein Licht"

Ein Junge flieht aus Afghanistan nach England

Blick über Wälder der südafghanischen Provinz Urusgan auf die Berge des Hindukusch.
Blick über Wälder der südafghanischen Provinz Urusgan auf die Berge des Hindukusch © picture-alliance / dpa / Can Merey
Von Simone Schmollack |
Er erlitt unaussprechliche Demütigungen und fürchtete, im Mittelmeer zu ertrinken. Und doch empfand Gulwali Passarlay seine erfolgreiche Flucht aus Afghanistan nach England nicht als Ende, sondern als Anfang seines Lebens.
Gulwali Passarlay ist zwölf Jahre alt, als seine Mutter ihn und seinen Bruder von Nagarkar aus einem Paschtunen-Dorf in Afghanistan nach Europa schickt. Die Söhne sollen nicht in die Fänge der Taliban geraten. Vater und der Großvater sind in den Kämpfen zwischen den Taliban und dem Westen von US-Soldaten erschossen worden.
Ein Jahr lang ist Gulwali auf der Flucht – allein. Von seinem Bruder wird er früh getrennt. Sein Weg führt ihn über den Iran, die Türkei, Griechenland, Bulgarien und Mazedonien bis in den "Dschungel", dem Flüchtlingslager in Calais an der nordfranzösischen Küste. Von dort aus gelangt er, versteckt in einem Transporter, über den Ärmelkanal nach England. Am Ende dieser Odyssee 2007 wird er 13 Jahre alt sein und sagen, er habe alles Kindliche verloren.
Ein Zwölfjähriger, der das Kindliche verloren hat
Gulwali läuft viel zu Fuß, bis zur Erschöpfung. Er kauert tagelang in Lkw und in Bussen, er verkriecht sich in Höhlen und in geheimen Wohnungen, er schläft in Parks und auf der Straße. Er friert und hungert, in engen Zügen und Lastautos wagt er nicht zu trinken, weil er nicht auf die Toilette kann. Die Überfahrt von der Türkei nach Griechenland in einem Schlauchboot glaubt der Junge nicht zu überstehen.
Er lernt Freunde kennen - und verliert sie wieder. Die Schlepper, mit denen er zu tun hat, sind zwielichtige Gestalten. Es ist unklar, wem er trauen kann und wem nicht. Einmal wird er aus dem Zug gestoßen und wacht erst beim Krankentransport wieder auf.
Gulwali Passarlay: Am Himmel kein Licht
Gulwali Passarlay: Am Himmel kein Licht© Piper Verlag
Das Schleppernetz ist ein ausgefeiltes System und mit streng abgesteckten Revieren der Menschenschmuggler. In diesem System sollte man besser nicht die Fronten wechseln, sonst bleibt man auf der Strecke. Das hat Gulwali schnell begriffen.
Immer wieder erhält der Junge Telefonnummern, Adressen von Häusern und Wohnungen, in denen er unterschlüpfen kann, sowie Anweisungen, wie es weiter geht. Es ist ein Wirrwarr aus Ungewissheiten und Befehlen, undurchschaubaren Routen und Zeitplänen. Manchmal wartet er einen Monat lang an einem Ort auf den nächsten Schritt.
Menschenschmuggler, die am "Abschaum" verdienen
Mehrfach wird er ins Gefängnis gesteckt, dann hockt das Kind zwischen kriminellen Erwachsenen. Behörden schätzen sein Alter auf 16 Jahre, damit wäre er strafmündig. Unterwegs sieht und erlebt der Junge alles, was Flucht heute mit sich bringt: Mädchen, die zur Prostitution und zu Haushaltsdiensten gezwungen worden sind, Dreck, Flüchtlingsunterkünfte für 200 Leute mit zwei Toiletten und einer Dusche.
Die Schlepper bezeichnen die Flüchtlinge als "Abschaum", an dem sie allerdings sehr gut verdienen. Gulwali hört irgendwann, dass seine Mutter für ihn 8000 Euro bezahlt haben soll.
Die Geschichte geht gut aus. In England findet er eine Pflegefamilie, er geht zur Schule und lernt schnell die neue Sprache. Heute studiert er Politik. Auch seinen Bruder hat er wiedergefunden. Er ist einer von Tausenden unbegleiteten Minderjährigen, die aus Afghanistan, Syrien oder dem Irak nach Europa fliehen. Ihnen gibt Gulwali Passarlay ein Gesicht.

Gulwali Passarlay: Am Himmel kein Licht - Die lange Reise eines kleinen Jungen, der allein aus Afghanistan flieht
Mitautorin: Nadene Ghouri
Übersetzt von Jürgen Neubauer
Piper Verlag München 2016
416 Seiten, 20 Euro, auch als E-Book

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