Gunnar Decker: „Rilke. Der ferne Magier. Eine Biographie“
© Siedler Verlag
Rilke ohne Raunen
Decker, Gunnar
Rilke. Der ferne Magier. Eine BiographieSiedler Verlag, München 2023608 Seiten
36,00 Euro
Spannend wie ein Roman liest sich Gunnar Deckers umfangreiche neue Biografie über Rainer Maria Rilke. Sie schildert den größten Metaphysiker der modernen deutschen Lyrik mit angenehmer Bodenhaftung.
Vor zwanzig Jahren hat Gunnar Decker bereits ein Buch über „Rilkes Frauen“ geschrieben. Auch in seiner umfangreichen neuen Rilke-Biografie „Der ferne Magier“ spielt das Thema eine zentrale Rolle.
Naturgemäß beginnt das mit der Mutter Phia, mit der Rilke in Hassliebe verbunden blieb und die er später – nicht zuletzt mittels einfühlsamer Briefe – auf Distanz hielt. Dabei hatte die dominante Mutter einiges mit ihm gemeinsam: den Drang zum Höheren, bisweilen Kunstgewerblichen, die dauerreisende Unrast.
Die Mutter steckte ihn in Mädchenkleider
Aber die Tochter aus großbürgerlichem Haus konnte sich schlecht mit Realitäten abfinden. Sie demütigte ihren Ehemann, als der sich mit einer mittleren Eisenbahnerlaufbahn zufriedengab, und weil sie sich eigentlich eine Tochter wünschte, steckte sie René Maria in Mädchenkleider, was der Vater dann wiederum durch forcierte Männlichkeitserziehung wettzumachen suchte.
Schon dieses psychologisch brisante Prager Kindheitsdrama ist großer Stoff, den Gunnar Decker in pointierter und analytischer Erzählweise darbietet. In einer Atmosphäre von Scheinhaftigkeit und Zerfall lernte das Scheidungskind Rilke das genaue Beobachten.
Schwärmer, Barfußläufer, Schlossbewohner
Diese Biografie erzählt das alles noch einmal fesselnd von Grund auf: Rilkes erotische Nietzsche-Nachfolge in der Bindung an die Ersatzmutter Lou Andreas-Salomé, die fast groteske Schwärmerei der Russlandreisen, die Aufenthalte in Worpswede und die rasch scheiternde Familiengründung mit Clara Westhoff, später die Begegnung mit Rodin und die verstörende Erfahrung der Großstadt Paris, die sich in der modernen Prosa des Romans „Malte Laurids Brigge“ niederschlug. Die Kontexte verbindet Decker mit den Texten, ohne in Wettstreit mit der ausufernden Rilke-Philologie treten zu wollen.
Rilke war ein Asket und Barfußläufer, hatte zugleich aber die Neigung zum Luxus. Keinem anderen Autor gelang es wie ihm, mit Charme und Charisma kulturaffine Mäzene und Gönnerinnen anzuzapfen. Er hatte keine Skrupel, hochadlige Damen um monatelange Aufenthalte auf ihren Schlössern zu bitten. Dabei machte er ihnen die produktive Bedeutung der Einsamkeit klar, sodass sie ihn weitgehend in Ruhe ließen. Bei Decker liest sich das bisweilen wie ein Schelmenroman. Virtuos verstand sich Rilke auf die Kunst, Frauen anzulocken und sie dann auf Distanz zu halten. Liebe ja, Nähe nein. Denn Bleiben ist nirgends. Das hatte auch viel Tragik – für ihn und die Frauen. Decker bescheinigt Rilke etwas Vampirhaftes.
Magische Bildsprache
Die Biografie gewinnt durch viele faszinierende Zitate aus Rilkes Briefen, die in ihrer starken Bildsprache Rilkes magisch-mystisches, oft auch etwas paranoides Welterleben vergegenwärtigen. Und mitunter nicht ohne raffinierte Komik sind.
Rilkes mystisches Erspüren und Benennen des Jenseitigen im Diesseitigen, sein Transzendieren ohne Transzendenz, seine Verschränkung von Kleinem und Großen, von Welt und Seele im symbolischen Bild – das ist die interpretatorische Leitlinie, die Decker in den Werken des Dichters verfolgt. Nach einem Jahrhundert ausufernder Forschung kann er zwar keine ganz neue Sicht auf Rilke bieten. Dafür aber eine detaillierte, die Klippen der Rilke-Frömmelei und der Rilke-Verspottung gleichermaßen souverän umschiffende Biografie, die sich spannender liest als viele Romane.