Gunstein Bakke: "Maud und Aud. Ein Roman über Verkehr"
Aus dem Norwegischen von Sabine Gisin
Verlag Die Brotsuppe, Biel 2019
272 Seiten, 27 Euro
Ein erhellender Abgesang auf das Autozeitalter
09:20 Minuten
Kann man das Phänomen Auto literarisch überzeugend bewältigen? Der norwegische Schriftsteller Gunstein Bakke hat einen "Roman über Verkehr" vorgelegt, der mit essayistischem Scharfblick und poetischer Kraft überzeugt.
Doch, doch – Sex kommt auch vor. Da, wo er hinpasst, mal als vage, nicht unbedingt schöne Erinnerung, mal direkt, als Ereignis, seziert in grellem OP-Licht. Aber der Verkehr, um den es hier vor allem geht, ist der andere, der Autoverkehr. Im Sommer 1981 passiert ein ganz und gar gewöhnlicher Unfall: Vier Menschen sind auf dem Weg in die ersten Familienferien von Oslo nach Dänemark. Plötzlich gerät der schwarze Mercedes 280 aus einer Linkskurve.
Ruth Bore, die Mutter, eine Geologin, die Meerestiefen vermisst, ist sofort tot. Der Vater, Jon Berre, ein begnadeter Straßenbauingenieur, verliert ein Bein, bekommt eine Spenderniere, kann aber später dank einer komplexen Apparatur namens Janus weiter Verkehrsströme planen, als "milchbleicher Halbmann", im Auftrag von Politikern, die "Weg" für "die Mitte von Norwegen" halten und das durchaus nicht als Kalauer meinen.
Nur die siebenjährigen Zwillingsschwestern sind "hundertprozentig lebendig – ein Wunder", aber durch Auds Gesicht zieht sich fortan ein Riss, weshalb Maud ihrer beider Gesicht trägt und sich immer da kratzt, wo es Aud unter dem Verband juckt. Im Krankenhausfernseher läuft die Hochzeitsautofahrt von "Tscharls und Dai-Änna, Prinz und Prinzessin von Oeïls, oder heißt es Weïls?", im absurd offenen Wagen, absurd langsam.
Das Prinzip Auto sichtbar gemacht
Das ist nur eine Spiegelung in Gunstein Bakkes "Roman vom Verkehr". Lady Dianas Tod 1997 im Pariser Tunnel, in einem schwarzen Mercedes 280, wird noch vorkommen, dazu eine Menge "ganz normaler" Crashs – mikroskopisch genau quasi viviseziert, und manchmal als Gedankenprosa des Autos selbst. Bakke anthropomorphisiert alles: Maschinen, Straßen, Landschaft, Himmel, Tiefsee, Elch und Bär – skrupellos und völlig plausibel, weil legitimiert durch literarische, zuweilen poetische Kraft.
Je mehr man den meist kurzen, scheinbar ohne erzählerische Dramaturgie aneinandergereihten Szenen folgt, desto mehr wird der Roman zum Kaleidoskop. Vexierbilder, kühl beschriebene Fakten, Szenen und Zustände, lauter Teilchen, die sich gegenseitig spiegeln, brechen und das Auto erkennbar machen als eine Art Kernmatrix, aus der sich alles ableitet und mit der alles zusammenhängt. Die erste Herztransplantation, zum Beispiel, bei der 1967 in Kapstadt einem älteren Mann das Herz einer jungen im Auto verunglückten Frau eingebaut wird, hat auch Folgen für den Verkehr:
"Gewiss stirbt Louis Washkansky bald (zum ersten Mal) und mit ihm Denise Ann Darvalls Herz (zum zweiten Mal), doch die Technologie überlebt. Und nun, da sie sich als lebenstüchtig erwiesen hat, gibt es reichlich Bedarf und Nachschub von Seiten des Verkehrs; Organ sucht Kreislauf, Kreislauf sucht Organ. Frisch oder frisch aufgetaut werden sie in die Operationssäle getragen, erfahren, doch unerprobt in dem, was nun geschehen soll. Verhandlungssteine in einem Spiel. Ein und derselbe Mensch kann gleichzeitig am Leben sein und am Sterben, wie es ausgeht, werden die Spielsteine entscheiden."
Der Verkehr frisst seine Kinder
Verkehrsopfer werden ausgeweidet, Organe verschoben, einer des anderen Baustelle, so wie Landschaft zerschnitten, Berge zersprengt werden – für Straßen, Tunnel, für die ganze expandierende Infrastruktur aller modernen Bewegung, die ihrerseits immer mehr Bereiche des Lebens gestaltet.
Der Autoverkehr zieht neue Arbeitsfelder nach sich – Aud wird als junge Frau einen Hubschrauber zur Verkehrsüberwachung fliegen, Unfallforschung entwickelt immer genauere Kollisionstests, Blitzanlagen sind Geldmaschinen für den Staat, selbstfahrende Autos in der Planung. Noch immer rumsen Kinder gern in Autoscootern herum, verdienen Fahrschulen an neuen Generationen, die mit und dank Auto "erwachsen" werden, florieren Waschanlagen, entstehen autogemäße Gewerbegebiete und -gebäude.
Menschenleichen reisen per LKW durch die Gegend, Schrottwracks mutieren zu Autoleichen und werden Teil der Natur. Nicht nur in Norwegen. Autos lösen Gewalt aus, wenn sie nicht selbst in irgendeinem Tunnel "zur Kugel auf ihrem Weg durch den Lauf" werden: Sie werden zerkratzt, verbeult, bekommen Teile abgebrochen. Staus machen aggressiv wie die Bengel, die unbedingt die Scheiben putzen wollen. Nachrichtenmedien verdienen prima an Horrorcrashs, Stephen King landet einen Bestseller mit "Christine", einem Auto, das tatsächlich selbst fährt, unbeherrschbar.
Inzwischen ist das Auto too big to escape
Je mehr man sich lesend in dieses Kaleidoskop vertieft, umso unheimlicher werden Gewohnheiten und Gegenstände, umso grotesker die Gefühls- und Gedankenwelt, in der man sich nicht von Autos, sondern von Bären bedroht fühlt.
Das Auto ist inzwischen nicht nur too big to fail, es ist too big to escape, es infrastrukturiert alle und alles: Davon erzählt Bakkes Roman auf allen sinnlichen Ebenen. Doch, doch – von Menschen auch, und von ihren Beziehungen, ihren Leben, ihren Toden, ihrem Sex. Auch im Auto, na klar. Und davon, dass sich die Technik für unsere Geschwindigkeit von der in langen Zeiträumen verdichteten Natur nährt: vom Öl. "Maud und Aud" ist das Buch für alle, die noch – oder schon? – ein Unbehagen an der suchtartigen Irrationalität der Beziehung Mensch-Auto verspüren. Ein melancholischer, lakonischer und gnadenlos erhellender Schwanengesang aufs Autozoikum.