Gusel Jachina: "Wolgakinder"
Aus dem Russischen von Helmut Ettinger
Aufbau Verlag, Berlin 2019
591 Seiten, 24 Euro
Das traurige Leben des Jakob Iwanowitsch Bach
06:21 Minuten
Nicht frei von Kitsch und dennoch lehrreich: In dem Roman "Wolgakinder" erzählt Gusel Jachina die Geschichte eines Dorflehrers in der Autonomen Wolgarepublik nach dem Ersten Weltkrieg. Das Werk ist reich an historischen Fakten.
Mit ihrem Debütroman "Suleika öffnet die Augen" gelang der tatarisch-russischen Autorin Gusel Jachina vor zwei Jahren ein großer internationaler Erfolg. In 21 Sprachen erschien die bewegende Geschichte einer tatarischen Bäuerin, die in der Stalin-Zeit aus ihrer Heimatregion Kasan nach Sibirien deportiert wurde.
Im zweiten Roman "Wolgakinder" kehrt Gusel Jachina zurück in die Anfänge der Sowjetunion und die Zeit davor. Der allgegenwärtige zeitgeschichtliche Hintergrund sind die Jahre 1916 bis 1938, als der Erste Weltkrieg, die Oktoberrevolution, der nachfolgende Bürgerkrieg, Hungersnöte, Zwangskollektivierung und der sogenannte Große Terror Millionen Menschen das Leben kostet.
Im zweiten Roman "Wolgakinder" kehrt Gusel Jachina zurück in die Anfänge der Sowjetunion und die Zeit davor. Der allgegenwärtige zeitgeschichtliche Hintergrund sind die Jahre 1916 bis 1938, als der Erste Weltkrieg, die Oktoberrevolution, der nachfolgende Bürgerkrieg, Hungersnöte, Zwangskollektivierung und der sogenannte Große Terror Millionen Menschen das Leben kostet.
Das Paar lebt in tiefster Einsamkeit
Stalin selbst taucht im Buch als Romanfigur auf. Der Georgier, der zu Lebzeiten gern als "Vater der Völker" im größten Vielvölkerstaat der Erde bezeichnet wurde, bleibt jedoch eine blasse, fast lächerliche Nebenfigur. Im Fokus steht das Leben eines tatsächlichen Vaters und "Kümmerers". Der Wolgadeutsche Jakob Iwanowitsch Bach nimmt - anders als Stalin - die Vaterrolle in ihrer unmittelbaren Bedeutung bis zur Selbstaufgabe ernst.
Jachina spielt bereits im Originaltitel des Romans ("Meine Kinder") doppelsinnig mit dem Begriff der Verantwortung des Einzelnen zwischen großer Politik und kleinem Individuum.
In akribischer, fantasievoll ausgeschmückter Detailliebe folgt der Roman seinem Protagonisten. Am Unterlauf der Wolga, wo deutsche Auswanderer ab dem 18. Jahrhundert eine neue Heimat fanden, lebt der Schulmeister Bach im Dorf Gnadental.
Die Privatschülerin Klara, die er auf märchenhafte Weise kennenlernt, beendet sein unauffälliges Leben. Die beiden kommen allen Hindernissen zum Trotz zusammen und leben auf der anderen Flussseite inmitten tiefster Einsamkeit, als Klara von kirgisischen Steppenbewohnern vergewaltigt wird.
Das Baby wird mit gestohlener Milch aufgezogen
Sie wird schwanger und stirbt bei der Geburt des Mädchens Anna. Bach zieht das Kind allein auf, indem er auf der anderen Flussseite Ziegenmilch aus den Kolchosen stiehlt. Der Verlust Klaras hat Bach buchstäblich die Sprache verschlagen – er kann nicht mehr sprechen und beginnt, Märchen über die Kultur und Traditionen der Russlanddeutschen zu verfassen – woraus eine Art volkstümliches Epos entsteht, mit dem er nun auf legalem Weg Milch und Lebensmittel erwirbt.
Die neu etablierten Funktionäre in der Autonomen Wolgarepublik machen aus diesen Texten sozialistische Aufbaugeschichten. Bach, zunehmend ein Außenseiter der sowjetischen Gesellschaft, lebt jahrelang als Selbstversorger im Wald mit Anna und mit einem kasachischen Waisenjungen, der ihnen zugelaufen war.
Beide Kinder werden Bach weggenommen und landen schließlich in einem kommunistischen Waisenhaus. Sein Versuch, selbst ein Waisenhaus aufzubauen, scheitert. Im Epilog erfährt der Leser, dass er zu 15 Jahren Lagerhaft verurteilt wird. Der kasachische Junge und seine Ziehtochter Anna kehren als Paar nach Jahren der Verbannung zurück an ihren Heimatort.
Trotz Romantisierung historisch interessant
Trotz starker Romantisierung und nicht wenig Kitsch im Roman "Wolgakinder" überzeugt wie schon beim Vorgänger-Werk die filmische Präzision, mit der die studierte Germanistin und Filmemacherin Gusel Jachina ihre Geschichte umsetzt. Ihre Sprache ist extrem bildreich und gibt Orten, Klängen und Gerüchen eine geradezu sinnliche Qualität. Eindringlich vermittelt sich die Gewalt, der wachsende Horror, den die Menschen über den Zeitraum von zwei Jahrzehnten erleben.
Beeindruckend ist zudem die kenntnisreiche, sehr versierte Behandlung der Geschichte der Russlanddeutschen. Ein ausführlicher Apparat mit Anmerkungen reichert die stark individualisierte Geschichte mit historischem Hintergrundmaterial an. Gewidmet hat Gusel Jachina ihren Roman dem Großvater, der als Deutschlehrer einer Dorfschule gearbeitet hatte.