Nicht die Sprache wird schlechter, sondern ihre Sprecher
Der "Erste Bericht zur Lage der deutschen Sprache" beweist: Das Deutsche ist keineswegs vom Sprachverfall bedroht. Aber: "Manche Leute machen einen schlechten Gebrauch von dieser Sprache", sagt Wolfgang Klein, Mitautor der Studie.
Joachim Scholl: Diese Klage gehört definitiv zum Standardrepertoire eines jeden Kulturpessimisten, dass die deutsche Sprache immer mehr verarmt, verfällt, kein richtiges Deutsch mehr gesprochen und überfremdet werden durch immer blödere Anglizismen et cetera, et cetera. Jeder Sprachinteressierte, der uns jetzt zuhört, wird vermutlich nicken und sagen, da ist schon was dran. Genauer wollten das die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung und die Union der Deutschen Akademien der Wissenschaften wissen. Und sie legen nun einen ersten Bericht zur Lage der deutschen Sprache vor.
Einer der Autoren ist jetzt bei uns, Wolfgang Klein, der Direktor des Max-Planck-Instituts für Psycholinguistik an der Universität Nijmegen. Willkommen im Deutschlandradio Kultur, Herr Klein!
Wolfgang Klein: Guten Morgen!
Scholl: "Reichtum und Armut der deutschen Sprache", so ist der Bericht überschrieben, und da denkt man gleich, oh, die Lage ist ernst. Ist sie das?
Klein: Nein. Eigentlich nein. Also, ich kann das irgendwie gut verstehen, dass man immer diese Vorstellung hat vom Sprachverfall. Ich glaube auch, es sind nicht nur Kulturpessimisten, sondern es ist irgendwie eine ganz allgemeine Vorstellung. Aber wenn man sich die Fakten anschaut, kann man eigentlich nicht so recht verstehen, wieso das eigentlich so sein soll. Es ist nicht so.
Scholl: Reichtum – das ist ihr Spezialgebiet gewesen, Herr Klein, genauer der Reichtum des deutschen Wortschatzes, den Sie untersucht haben. Und da kommen Sie statistisch zu dem Befund, zu dem schönen Befund, dass die deutsche Sprache in den letzten 100 Jahren um circa eine Million Wörter reicher geworden sei. Da kann also von Armut schon mal gar keine Rede sein.
Klein: Nein. Man hat verschiedene Vorstellungen, wie reich der deutsche Wortschatz überhaupt ist. Es ist ja so, dass das Ausdrucksvermögen einer Sprache in erster Linie vom Wortschatz abhängt, nicht von der Grammatik. Dann gibt es also unterschiedliche Vorstellungen, die schwanken irgendwie von 50.000 bis 500.000. In Wahrheit sind das aber sehr, sehr viel mehr. Und dieser Reichtum, der hat sich in den letzten 100 Jahren noch einmal gewaltig gesteigert.
Da muss man natürlich gerechterweise gleich hinzufügen: Das sind in erster Linie Zusammensetzungen. Grundwörter, also ganz neuartige Wörter, die kann es eigentlich nur selten geben. Gibt es manchmal, gibt es aber relativ selten. Im Deutschen gibt's insgesamt nur vielleicht 8.000 bis 9.000 Wortstämme im engeren Sinne. Und alle neuen Wörter werden entweder aus anderen Sprachen übernommen, also Griechisch, Französisch oder neuerdings eben sehr stark Englisch, oder man macht irgendwelche Neubildungen.
Und da gibt es eben zahlreiche, von denen man aber gar nicht sofort drauf käme, dass das also irgendwie Neubildungen sind. Zum Beispiel, was ich gerade jetzt viel gehört habe, ist im Zusammenhang mit dem Bischof Tebartz van Elst ist Auszeit. Das ist ein Wort, das relativ neu ist, das also irgendwie auch sehr, sehr plastisch ist. Oder Teilzeit. Teilzeit ist ein anderes Beispiel dafür. Es gibt also sehr, sehr viele Bildungen, die erst im Laufe des letzten Jahrhunderts entstanden sind.
Scholl: Mir fällt gerade, ich weiß gar nicht, warum, die Babypause ein, die gab es vor 100 Jahren wahrscheinlich auch noch nicht. Wie haben Sie das eigentlich herausgefunden? Was für Texte haben Sie untersucht?
Klein: Wir haben zum ersten Mal eine wirklich systematische und große und umfassende Untersuchung gemacht. Und zwar haben wir das in der Weise gemacht, dass wir drei Zeitscheiben definiert haben, jeweils zehn Jahre lang. Die erste liegt am Anfang des 20. Jahrhunderts, also 1905 bis 1914. Die zweite liegt dann in der Mitte, also kurz nach dem Zweiten Weltkrieg. Und die dritte liegt jetzt um die Wende vom 20. zum 21. Jahrhundert. Und da kann man einfach relativ klar auszählen, zum Teil mit statistischen Verfahren auswerten, wie sehr sich der deutsche Wortschatz geändert hat in dieser Zeit und wo und in welchen Bereichen er zugenommen hat und mit welchen Mitteln.
Scholl: Ein schönes Beispiel, das Sie auch anführen, ist zum Beispiel das Wort Droschke. Kaum jemand benutzt es noch, wir alle sagen heute natürlich Taxi. Dieser Verlust, kann man sagen, liegt in der Natur der Sache. Die Droschke verschwand, die Kutsche. Was kann man daraus aber mehr ableiten als die Plattitüde, so: Wörter kommen und gehen mit den Dingen, die sie bezeichnen.
Klein: Manchmal wundert man sich, dass Wörter also verschwinden, ohne dass jetzt irgendwas genau Entsprechendes, Neues hinzugekommen ist. Ein anderes Beispiel, das auch in diesem Bericht steht, ist das Wort behufs, das bis ungefähr 1920 relativ häufig vorgekommen ist. Ich weiß gar nicht, ob die meisten der Zuhörer noch wissen, was das eigentlich bedeutet.
Scholl: Sagen wir es noch mal: behufs.
Klein: Ja, ja. Also "behufs näherer Informationen", das heißt so etwas wie "zum Zwecke von", und da ist nichts an die Stelle getreten, kurioserweise. Das ist aber untypisch. Normalerweise ist das so, dass, wenn ein neues Wort auftaucht, dass es dafür irgendwie auch einen Grund gibt, ein spezielles Ausdrucksbedürfnis. Und umgekehrt ist das so, dass, wenn ein Wort verschwindet, eben es keinen Grund mehr gibt, es zu verwenden, weil dieses Ausdrucksbedürfnis nicht mehr besteht. Behufs ist, wohlgemerkt, eine Ausnahme.
Scholl: Der erste Bericht zur Lage der deutschen Sprache, wir sind hier im Deutschlandradio Kultur im Gespräch mit einem der Autoren, Wolfgang Klein von der Universität Nijmegen. Nun ist der wissenschaftliche Nachweis von Masse das eine, Herr Klein. An der Beurteilung der Klasse, davon hängt jedoch die gesellschaftliche Diskussion über unsere Sprache ganz entscheidend ab, und hier kommt ja, glaube ich, die Rede vom Verfall unserer Sprache her.
Und wenn wir mal Wörter jetzt nehmen, die auch zur deutschen Sprache mittlerweile gehören, dann weiß man sofort, was hier jetzt zur Rede steht. Wir mailen, wir twittern, wir chatten, wir posten, wir liken inzwischen wie die Weltmeister. Und genau deswegen sagen die einen, jawoll, so kommt die deutsche Sprache auf den Hund. Andere nennen das einen normalen Zuwachs, eine Entwicklung, die die Sprache durchmacht. Inwieweit reflektiert denn Ihr Bericht diesen Streit.
Neue Wörter für neue Gegebenheiten
Klein: Was wir gemacht haben, ist zunächst einmal noch – so von Wertungen, da will ich mich zurückhalten. Also ich hab zum Beispiel sehr, sehr klare Wertvorstellungen in einigen Punkten, und einige Sachen regen mich einfach auf. Aber das ist die eine Sache.
Die andere Sache ist, dass man einfach mal, zunächst einmal als Hintergrund, darstellen muss, wie es eigentlich ist. Und wenn es dann neue Wörter gibt, wie zum Beispiel twittern oder liken oder so was, dann hat das a) zum Teil seinen Grund: Es ist einfach so, dass mit dem Twitter-System, dass es da eine ganz andere Möglichkeit gegeben hat, sich also auszudrücken. Und da kann man jetzt also ein neues deutsches Wort erfinden, das wäre nicht so einfach, oder man kann ein Wort übernehmen aus dem Englischen hier. Und das ist eigentlich wie ein deutsches Wort, wird ja auch wie ein deutsches Wort flektiert: "Er hat getwittert" und dergleichen mehr. Das heißt also, wenn man irgendwie eine neue Sache hat, und die hat man ja hier, dann hätte man irgendwie gern auch ein Wort dafür, das das ausdrücken kann. Und woher soll man es dann nehmen?
Scholl: Aber bei liken zum Beispiel, wissen Sie, da könnte man doch einfach sagen, ich mag's, oder mögen, das schöne deutsche Wort – das ist doch einfach Quatsch.
Klein: Das ist richtig. Ich verstehe auch nicht, wieso die Jugend das macht. Vielleicht ganz einfach, um sich abzusetzen.
Scholl: Bleiben wir mal bei den Anglizismen. Ihnen widmet der Bericht ein eigenes umfangreiches Kapitel, das ihr Kollege Peter Eisenberg erarbeitet hat. Ohne ihm und seinem Team nahetreten zu wollen – das Fazit lautet: Alles halb so wild. Anglizismen berühren die Struktur der deutschen Sprache kaum, beschädigen schon gar nicht ihren Reichtum. Und eine Kritik an den Anglizismen, die muss sich eher an den Sprecher richten als an die Sprache. Und als ich das las, Herr Klein, da dachte ich, äh, hallo? Jedes Mal, wenn ich im Fernsehen wieder den Aufruf höre, "jetzt können Sie voten", geht mir persönlich der Hut hoch. Ihnen nicht?
"Da muss man aber die Leute tadeln und nicht die deutsche Sprache"
Klein: Doch! Aber tadeln Sie nicht die deutsche Sprache dafür. Die deutsche Sprache hält nämlich die geeigneten Wörter dafür bereit. Deshalb verfällt die Sprache nicht, aber manche Leute machen halt einen schlechten Gebrauch von dieser Sprache. Ich verstehe auch nicht, wieso die Leute dann auf einmal voten statt wählen. Wahrscheinlich, weil sie sich sozusagen in eine gewisse Weltläufigkeit oder so etwas – weil sie das zeigen möchten. Aber das ist eine Sache, dass die Leute einen unguten Gebrauch davon machen oder einfach dieses ganze Potenzial nicht ausreizen oder, wie man neuerdings sagt, das Potenzial nicht abrufen, das die deutsche Sprache insgesamt hat. Da muss man aber die Leute tadeln und nicht die deutsche Sprache. Die deutsche Sprache ist davon nicht bedroht. Das Wort wählen existiert weiter.
Scholl: Wir Deutschen müssen natürlich besonders aufpassen, wenn es hier um eine vermeintliche Reinheit von Sprache geht. Die Nazis, die haben auch Eichendorff und Kleist schlimm für sich reklamiert diesbezüglich. Aber wenn wir mal zum Beispiel nach Frankreich schauen, wo die Académie Francaise sich dezidiert als Sprachwächter versteht. Da würde man sich doch vielleicht auch von Vereinigungen wie der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung oder der Union der Deutschen Akademien der Wissenschaften ab und zu mal so einen Bannstrahl wünschen, der wenigstens mal donnert: Leute, lasst doch diesen Blödsinn. Wie stehen Sie denn dazu?
Klein: Da muss ich zwei Dinge auseinanderhalten. Das eine ist, wie ich sozusagen als Mensch, als Wolfgang Klein darüber denke, das andere, was ich als Wissenschaftler dazu sagen kann, und da ist als Letzteres, in der letzteren Funktion muss ich zunächst mal sagen, wie es ist. Was jetzt Wertungen angeht, da ist halt die große Schwierigkeit, dass das von Mensch zu Mensch sehr unterschiedlich ist. Mich regt ein Teil dieser Dinge auf. Aber es ist halt irgendwie so etwas, was ein bisschen störend ist irgendwie, was aber nicht die deutsche Sprache insgesamt betrifft.
Scholl: Die Sprache nicht, aber zum Beispiel könnte man einfach sagen, es gibt gutes Deutsch und es gibt schlechtes Deutsch.
Klein: Ja! Ja!
Scholl: Wenn demnächst auf dem CDU-Wahlplakat steht, "Jetzt voten!", dann würde ich sagen, das ist schlechtes Deutsch. Und das müsste doch auch aber gerade mal von so einer Akademie, zu der Sie gehören, wär das doch mal so ein Punkt, wo man sagen könnte, jetzt sagt doch mal was!
Klein: Ich kann Ihnen da eigentlich nicht widersprechen. Ich denke, insbesondere die Union der Akademien ist eigentlich die Union der wissenschaftlichen Akademien. Aber die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung, die könnte durchaus eine solche Funktion haben, das glaube ich in der Tat.
Scholl: Nicht den schwarzen Peter hinwegschieben!
Klein: Nein, ich bin da auch Mitglied, das sollte ich vielleicht sagen. Und die hat das ja auch mit gemacht. Nein, das ist schon richtig irgendwie, aber man muss dann schon sagen, dass einige Subjektivität drin liegt, und, zweitens: Sie haben die Académie Francaise erwähnt, die ja also eine der ältesten Akademien überhaupt ist. Ich glaube, 1642 oder so was ist sie gegründet worden, und zwar genau zu dem Zweck, für die Reinheit der französischen Sprache.
Aber die Wirkung, die sie tatsächlich hat und hatte, die ist eigentlich sehr gering. Das hat eigentlich dazu geführt, dass es heute zwei Varianten des Französischen gibt, das francais parlé, wie man es in der Tat auf der Straße findet, wie die Leute alltäglich miteinander reden oder so. Das hat sich sehr, sehr weit entfernt von den Standards, die die Académie Francaise vorgibt.
Scholl: Ein schönes Bild, mit dem wollen wir unser Gespräch beschließen, Herr Klein. Sie haben die deutsche Sprache als "Bösendorffer Flügel" sozusagen bezeichnet. Schöne Metapher, dieses exzellente, teure Instrument steht in unserem Wohnzimmer, sagen Sie, man muss halt nur drauf spielen können. Heißt das mit anderen Worten aber auch nicht, es können nicht mehr so viele, und hier liegt der Hase im Pfeffer?
Klein: Das ist es. Ich glaube, das ganz genau ist es. Ich glaube nicht, dass die Akademien irgendwie Vorschriften machen sollten, sondern man sollte dafür sorgen, im Unterricht, an den Universitäten oder auch sonst irgendwie, wie das in anderen Ländern ja auch der Fall ist, dass die Leute einfach lernen, einen besseren Gebrauch von ihrer Sprache zu machen.
Scholl: Von "Reichtum und Armut der deutschen Sprache" – der erste Bericht zur Lage der deutschen Sprache. Heute wird er vorgestellt, und bei uns war Wolfgang Klein, er gehört zu den Autoren. Ich danke für Ihren Besuch!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.