Ballerina auf den Flügeln eines Schmetterlings
"Das hässliche Entlein" und andere Märchen von Hans Christian Andersen kennt fast jeder. Weniger bekannt ist, dass er auch bildender Künstler war. Eine Ausstellung in Bremen zeigt: Andersens Scherenschnitte tauchen sogar bei Andy Warhol auf.
Andrea Gerk: "Die kleine Meerjungfrau" oder "Des Kaisers neue Kleider" sind Märchen, die Hans Christian Andersen in aller Welt berühmt machten. Weniger bekannt ist, dass Andersen auch ein eigenwilliger bildender Künstler war. Unzählige Scherenschnitte, Klecksografien und Bilderbuchcollagen hat er geschaffen. Und diese Bildwelten sind jetzt in der Kunsthalle Bremen zu sehen und in einem zu dieser Ausstellung erschienenen Buch über den "Poeten mit Feder und Schere". Die Herausgeber und Kuratoren sind Anne Buschhoff und Detlef Stein, mit denen ich jetzt in einem Studio in Bremen verbunden bin. Guten Morgen!
Anne Buschhoff: Guten Morgen!
Detlef Stein: Guten Morgen nach Berlin!
Gerk: Herr Stein, Sie haben ja Ihre erste Begegnung mit dem bildenden Künstler Hans Christian Andersen einer Panne zu verdanken. Erzählen Sie doch mal bitte, was da passiert ist.
"Atemberaubend moderne Collagebücher"
Stein: Eine Zugpanne in Dänemark hat das Ganze ins Rollen gebracht. Ich bin auf einer Reise durch Dänemark in Odense, der Geburtsstadt von Hans Christian Andersen, hängen geblieben und musste mir überlegen, wie ich die Wartezeit überbrücken kann. Und so eine Stunde Kaffeetrinken, das ist okay, aber dann braucht es noch ein bisschen Programm.
Ich habe dann das Hans-Christian-Andersen-Haus besucht, von dessen Existenz ich wusste und das auch überall in der Stadt beworben wird. Ich bin da mit dem Klischeebild im Kopf hingelaufen, dass ich jetzt das Museum für einen biedermeierlichen Märchenonkel besuchen werde, also hab viele aufgeschlagene Erstausgaben dort erwartet und vielleicht ein Tintenfass und die originale Schreibfeder oder ein Brillengestell. Und das gab es natürlich auch alles dort in diesem wunderschönen Museum.
Aber womit ich überhaupt nicht gerechnet habe, das waren sehr originelle Scherenschnitte von Andersen, die es da zu sehen gab, kleinformatige Federzeichnungen auf vergilbten Papieren und atemberaubend moderne Collagebücher, die überhaupt nicht mit meinem mitgebrachten Klischeebild in Einklang zu bringen waren. Und dieser Eindruck, der hat sich sehr tief eingegraben, und als ich dann wieder zurück in Bremen war und das Ganze mal nachschlagen wollte in deutschen Andersen-Biografien, da habe ich gemerkt, dass sich das eigentlich gar nicht abbildet in der deutschsprachigen Literatur.
Dann habe ich eines Tages meine sehr liebe wertgeschätzte Kollegin Anne Buschhoff mal hinzugezogen und habe gesagt, guck dir das doch auch mal an, wäre das nicht mal was für eine Ausstellung? Und da sie dann auch gleich Feuer gefangen hat, kam die Idee einer Ausstellung ins Rollen, und wir haben jetzt drei Jahre gemeinsam an dieser Verwirklichung gearbeitet und sind jetzt ganz stolz, den Bildkünstler Hans Christian Andersen dem Publikum vorstellen zu können.
Überraschende Bildwelten
Gerk: Und das sind ja wirklich ganz überraschende Bildwelten. Ich habe jetzt Ihren Katalog hier vor mir liegen. Diese Scherenschnitte sind so was von bizarr: Da sind irgendwelche Galgenmännchen und ganz verrückte Bildwelten. Ein Herzensdieb eben, der am Galgen hängt, eine Frau mit vier Brüsten. War das für Sie auch so überraschend, Frau Buschhoff, diese Welt zu entdecken?
Buschhoff: Ja, absolut. Hans Christian Andersen hat seinen ganz eigenen Motivkanon entwickelt. Er betreibt nicht Silhouettenkunst, wie das in der Zeit üblich war, sondern er entwickelt solche Fantasiefiguren. Manchmal sind es Motive, die ganz stark mit seiner Autobiografie zusammenhängen, zum Beispiel das Motiv der Ballerina. Das durchzieht wirklich seine gesamte Scherenschnittkunst.
Aber das Schöne ist, dass eine Ballerina eben nicht nur auf einer Theaterbühne steht – wir wissen, Andersen hat selbst als junger Mann davon geträumt, Tänzer zu werden, ein Wunsch, den er nicht verwirklichen konnte. Diese Ballerinen treten auch in ganz fiktiven Kontexten auf. Die stehen plötzlich auch auf den zarten Flügeln eines Schmetterlings, oder die tanzen in einer verkorkten Flasche. Also er schafft eine Kunst, die immer ganz stark in die Welt der Fantasie geht.
Er ist jemand, der das Schaurig-Schöne liebt. Es treten auch immer mal teuflische Wesen auf. Er ist jemand, der durchaus auch Redensarten ins Bild gesetzt hat. Und es ist jemand, der also einen regelrechten Kanon entwickelt.
Und wir wissen, dass er diese Scherenschnitte gearbeitet hat, während er erzählt hat. Er war ein sehr gern gesehener Gesellschafter, und er muss eine große Routine im Schneiden gehabt haben, denn er hat es dann tatsächlich oft geschafft, die Erzählung und den Scherenschnitt im gleichen Moment abzuschließen. Das war natürlich besonders charmant für die Zuhörer um ihn herum.
Gerk: Die das geschenkt bekommen haben.
Buschhoff: Genau.
Gerk: Ich hab gestern mit meinen Kindern noch mal in Andersens Märchenbuch gelesen, und lustigerweise sind wir zufällig dann auf "Die Blumen der kleinen Ida" gekommen, und da beschreibt Andersen sich ja selbst als lustigen Studenten, dessen groteske Scherenschnitte den biederen Kommerzialrat, heißt er, glaube ich, dann ärgern, aber das Kind natürlich, die kleine Ida, sehr freuen. Also da gibt es offenbar auch ganz direkte Verbindungen zwischen den Texten und den Bildern?
Hinweise auf die Papierkunst in Andersens Märchen
Stein: Ja, es gibt verblüffender Weise einige wenige direkte Hinweise auf die Papierkunst. Sie haben das Märchen von den Blumen der kleinen Ida gerade angesprochen. Ein weiteres Märchen mit dem Titel "Des Paten Bilderbuch" beschreibt eigentlich sehr genau, was Andersen tatsächlich auch für Patenkinder und für die Kinder einiger Freunde und Förderer gemacht hat. Er hat Blankobücher, Blankohefte Seite für Seite gestaltet mit seinen eigenen Scherenschnitten, mit handschriftlich vermerkten Versen, mit collagierten Bildern, die aus allen möglichen Bildvorlagen der damaligen Zeit stammten.
Und die Leserschaft damals, die große Märchenleserschaft Hans Christian Andersens, die hätte eigentlich bei genauem Lesen auch diesen Hinweis aufgreifen können, dass da ein Bildkünstler angesprochen wird, ein Student, der Scherenschnitte macht, oder ein Onkel, der den Patenkindern Bilderbücher klebt. Aber diese Anspielungen sind offensichtlich verklungen.
Und wenn man sich die ja damals in Europa vielfach übersetzten und auflagenstark veröffentlichten Märchenbände anguckt, dann wird man sehen, dass die Illustratoren der damaligen Zeit auf die Illustrationskünste der gefragten, professionellen Bildermacher gesetzt haben wie Ludwig Richter oder Theodor Hosemann oder Wilhelm Petersen. Nie ist ein Verleger auf die Idee gekommen, mit Andersens eigenen Scherenschnitten oder Zeichnungen einen dieser Märchenbände zu veröffentlichen.
"Er hat sich selbst nicht als bildender Künstler verstanden"
Gerk: Hat er selbst das denn als Kunst angesehen, was er da gemacht hat in diesem Segment? Oder war das so was dazu? Ich fand, was Sie auch beschrieben haben, das erzählen Sie ja auch in dem Buch, dass er eben Scherenschnitte beim Erzählen gemacht hat. Da muss es ja irgendeinen rhythmischen Zusammenhang fast schon gegeben haben, vor allem, wenn er gerade fertig war mit beidem, mit der Geschichte und dem Scherenschnitt. Weiß man was darüber, wie er selbst da seine Tätigkeit als bildender Künstler gesehen hat?
Buschhoff: Er hat sich ganz sicher selbst nicht als Künstler, als bildender Künstler verstanden. Wir wissen, dass er zum Beispiel seine Zeichnungen auch wirklich kaum jemandem gezeigt hat. Das hätte er sich gar nicht getraut.
Die Scherenschnitte hat er in Gesellschaft gearbeitet, also unter Freunden und Bekannten war das bekannt. Und die Collagebücher natürlich auch. Aber ansonsten hat er das nicht verbreitet. 1905 erscheint eine Mappe, da werden erstmals überhaupt solche Scherenschnitte reproduziert. Und im ersten Band des Thieme-Beckers, des wichtigen Kunstgeschichtslexikons, wird dann Andersen gewürdigt mit ein paar wenigen Zeilen als Scherenschnittkünstler.
Van Gogh hat es geahnt
Es gibt einen ganz berühmten Künstler, der hat schon gemutmaßt Anfang der 1880er-Jahre, dass Andersen selbst bildkünstlerisch arbeitet, und das war kein geringerer als Vincent van Gogh. Der hat die Literatur von Andersen geliebt, und der hat vermutet, dass dieser Mann, der so besonders visuell vorgegangen ist, der ja ein wahrer Augenmensch war und der sehr wohl verstand, Bilder aus Wörtern zu malen, dass dieser Mann vielleicht Illustrationen gezeichnet hätte. Das hat Andersen nie gemacht. Er hat nie seine eigenen Märchen illustriert.
Die bildkünstlerische Welt, insbesondere die Scherenschnitt-Welt ist wirklich eine Märchenwelt parallel zur eigentlichen Märchenwelt. Aber er hat durchaus gezeichnet.
Gerk: Und er hat ja durchaus ein Echo in der Kunstwelt ausgelöst. Ich war ganz überrascht. Es war mir nicht klar, dass Andy Warhol seine Scherenschnitte in Siebdrucken festgehalten hat. Das heißt, er hatte durch diese Modernität, die diese Arbeiten ja unbedingt haben, dann auch offenbar ein Echo in der Kunstwelt.
Buschhoff: Ja. Es war für uns ganz verblüffend und erfreulich zu sehen, dass eben nicht ausschließlich nur die Märchenfiguren von Andersen in der Kunst der Moderne rezipiert wurden, zum Beispiel ein wirklich sehr garstig-hässliches Entlein, was Asger Jorn gemalt hat, oder das Däumelinchen in einem Animationsfilm von Lotte Reiniger, sondern dass auch gerade in der jüngeren Zeit – und da nehmen wir mal den späten Andy Warhol mit hinein –, in den 1980er-Jahren und später, dass eben auch Andersens Bildkünste explizit rezipiert wurden.
Warhol hat sehr kurz vor seinem Tod, durch einen dänischen Hoffotografen darauf aufmerksam geworden, eine kleine Reihe gearbeitet mit Andy Warhols typischer Farbigkeit und seiner Bildaneignungsmanier. Und da geht es um drei Scherenschnitte Andersens und auch um ein Hans-Christian-Andersen-Porträt.
Wir haben aber auch gemerkt, dass die Pet Shop Boys, eine ja sehr erfolgreiche englische Popband, die Ballettmusik für eine Bühnenfassung des Märchens "Das Unglaublichste" geschrieben haben und auf dem Schallplattencover ein Andersen-Scherenschnitt gelandet ist, oder die heute vielleicht wichtigste Scherenschnittkünstlerin, Kara Walker, in einer Arbeit sich unter anderem in einem geschichtlichen Bogen des Scherenschnitts auch auf Hans Christian Andersens Motive bezieht.
Gerk: Und ich finde, wenn man Ihr Buch oder Ihre Ausstellung besucht hat und diese Bilder gesehen hat, dann liest man auch die Texte noch mal anders von ihm. Mir ging das zum Beispiel jetzt bei der Vorbereitung so.
Moderne Montiertechnik
Buschhoff: Ich denke, dann fällt auch noch mal besonders auf diese ungeheure Erzählfreudigkeit des Andersen. Der hat ja manchmal was richtig Ausschweifendes. Man hat das Gefühl, alles, was ihm so im Leben begegnet, das wandelt er um in Kunst, entweder in Wort oder in Bild.
Und ich finde ganz bemerkenswert diesen Mut, Dinge zu montieren, sowohl in seiner Literatur wie in seiner Kunst. In seiner Literatur hat er ja häufig literarische Grenzen gesprengt. Dann schreibt er einen Reisebericht, aber da schleicht sich auch mal ein Märchen ein oder ein Gedicht. Und in diesen Collagebüchern nimmt er ja auch, und das ist ja rückwärts gesehen extrem modern, ganz disparate Dinge, und er bringt sie zusammen.
Er nimmt Vorgefundenes, er schneidet aus aus Zeitungen, aus Zeitschriften, nimmt Schnipsel aus Speisekarten oder Theaterprogrammen und kombiniert das dann mit seinen eigenen Scherenschnitten und endet letzten Endes wieder im Buch, aber in einem Buch, das dann eben vom Bild ausgeht, wo die Erzählung sich aus dem Bild heraus entwickelt.
Gerk: Anne Buschhoff und Detlef Stein, vielen Dank für dieses Gespräch! Und die Ausstellung über den ""Poeten mit Feder und Schere" ist bis zum 24. Februar in der Kunsthalle Bremen zu sehen. Der dazugehörige Katalog, unter anderem mit Texten von Anne Buschhoff und Detlef Stein und mit zahlreichen Abbildungen der Zeichnungen und Scherenschnitte von Andersen ist im Wienand-Verlag erschienen und kostet 32 Euro.
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