Shelly Zer-Zion: Habima - Eine hebräische Bühne in der Weimarer Republik
Verlag Wilhelm Fink, 2016
392 Seiten, 49,90 Euro
Jüdisches Theater im Berlin der Goldenen Zwanziger
Im Herbst 1926 begeisterte die jüdische Theatertruppe "Habima" aus Moskau das Berliner Theaterpublikum. Die Autorin Shelly Zer-Zion hat dieses vergessene Kapitel der Geschichte des späteren israelischen Nationaltheaters neu erzählt.
Die Kritik zur Premiere des Habima-Theaters im Berliner Tagblatt fiel wohlwollend aus und am 5. Oktober schrieb Arnold Zweig in der "Jüdischen Rundschau":
"Zusammen mit der hieratischen Ruhe der Gebärde gaben sie dieser Dybbuk-Aufführung eine Haltung, eine zu gleicher Zeit gottesdienstliche und alltägliche Jüdischkeit."
"Das intellektuelle Milieu Berlins, jüdische und nicht-jüdische Kritiker und Theaterleute reagierten sehr positiv."
So fasst die israelische Theaterwissenschaftlerin Shelly Zer-Zion die Reaktionen zusammen. Und es blieb nicht bei diesem einen Gastspiel. Für die nächsten fünf Jahre bis zum endgültigen Umzug in das britische Mandatsgebiet "Palästina", 1931, wurde Berlin so etwas wie eine zweite Heimat für Habima. Neben dem "Dybbuk”, der Geschichte einer vom Geist ihres verstorbenen Geliebten besessenen jungen Frau, entstanden in Berlin Inszenierungen nach biblischen Stoffen wie "Jakobs Traum" oder nach Geschichten von Scholem Alejchem.
Thomas Mann war fasziniert
Zer-Zion hat jetzt dieses vergessene Kapitel aus der Geschichte des späteren israelischen Nationaltheaters neu erzählt. In ihrem Buch "Habima - Eine hebräische Bühne in der Weimarer Republik" nehmen die Reaktionen des Berliner Publikums einen breiten Raum ein. Wie viele faszinierte zum Beispiel Thomas Mann die Fremdheit der Sprache, der expressionistische Inszenierungsstil und die fremde Welt auf der Bühne.
"Er hatte das Gefühl, auf der Bühne eine sehr authentische, unheimlich-mittelalterliche, religiöse, mystische, jüdische Welt zu erleben."
Für jüdische Deutsche ermöglichten die Habima-Aufführungen einen Blick zurück zu den eigenen Ursprüngen, in eine Kultur neben der christlichen Mehrheitskultur, in eine Welt, die vorher schon Martin Buber mit seinen "Erzählungen der Chassidim" zum ersten Mal einem deutschsprachigen Publikum zugänglich gemacht hatte.
Berliner Theaterkultur und Habima beeinflussten sich gegenseitig
Mit was ließe sich der Eindruck des Ensembles auf die Berliner der 20er-Jahre heute vergleichen? Mit einer antiken Tragödie im griechischen Original? Zer-Zion fällt ein anderes Beispiel ein, das mitten hinein führt in den Alltag jüdischer und arabischer Israelis von heute:
"Das war eine arabischsprachige Inszenierung beim Festival von Akko: 'Fassedin' mit Raida Adon, wo es um die Geschichte eines palästinensischen Dorfs ging. Da ging es nicht um Religion, sondern um Politik, aber der Eindruck war ähnlich intensiv. Die arabischen Zuschauer übersetzten flüsternd für ihre jüdischen Nachbarn. Und mit einem Mal wurde das Stück zum Geheimnis, das zwei Nationalitäten, zwei Kulturen miteinander teilen."
Und wie beeinflussten umgekehrt Berlin und seine Theaterkultur "Habima"? Die meisten Ensemblemitglieder waren viel zu sehr mit internen Streitereien beschäftigt, lacht Zer-Zion. Dass die Berliner Jahre "Habima" trotzdem entscheidend beeinflussten, ist vor allem einer jungen Frau zu verdanken:
"Einer jungen Dame aus einer wohlhabenden deutsch-jüdischen Familie namens Margot Klaussner, die das Theater hinter den Kulissen neu organisierte und letztendlich dafür sorgte, dass das Ensemble später zum israelischen Nationaltheater wurde."
Habima lebte Schillers Ideal vom Theater als moralische Anstalt
Klaussner gewann prominente Intellektuelle von Thomas Mann bis Alfred Kerr als Unterstützer. Sie organisierte Gastspielreisen und 1931 den endgültigen Umzug des Ensembles nach Tel Aviv, aber ihr und der Einfluss der deutschen Förderer ging weiter:
"In den Berliner Jahren wurde "Habima" zum 'Bildungstheater', mit einem festen Repertoire und einem Programm, das sich an den Werten der Aufklärung orientierte."
Hier in der jungen Stadt Tel Aviv lebte so Schillers Ideal vom Theater als moralische Anstalt und Instrument der Aufklärung weiter.
"Und das zu einer Zeit, in der das Bildungsideal der Aufklärung in Deutschland und unter deutschen Juden unter dem faschistischen Ansturm zusammenbrach."
Shelly Zer-Zion hat die Berliner Geschichte des bedeutendsten Theaters ihres Landes nach Jahren des Vergessens wieder entdeckt. In Berlin sucht man am ehemaligen Theater am Nollendorfplatz vergeblich nach einer Erinnerungstafel, die an die Erfolge des späteren israelischen Nationaltheaters hier in den wilden 20er-Jahren erinnert.