Händeloper "Orlando" in Aachen

Liebe als Raserei

Eine Statue von Georg Friedrich Händel in seiner Geburtsstaat Halle an der Saale.
Aus dem Versroman "Rasender Roland" von Ariost hat Komponist Georg Friedrich Händel die Oper "Orlando furioso" gemacht - und dessen Raserei ist die Liebe. © imago/Westend61
Von Ulrike Gondorf |
Liebe ist Wahnsinn. Das hat Jarg Pataki in seiner klugen und wirkungsvollen Inszenierung von Händels Oper "Orlando" im Theater Aachen wörtlich genommen - und die Handlung in die Psychiatrie verlegt. Doch wenn Orlandos Liebeswahn zu zähmen wäre, gäbe es wohl keine Oper.
Liebe ist Wahnsinn. Ja, das sagt man so. Der italienische Renaissance-Dichter Ariost hat Anfang des 16. Jahrhunderts einen dicken Versroman darüber geschrieben: den "Rasenden Roland". Mitte des 18. Jahrhunderts hat Georg Friedrich Händel in London eine Oper daraus gemacht: "Orlando furioso". Und dessen Raserei ist eben die Liebe. Jetzt hat der Regisseur Jarg Pataki in Aachen Ariost und Händel beim Wort genommen und das ganze Personal des Stücks in die Psychiatrie eingewiesen.
Auf der Drehbühne steht ein Labyrinth aus Betonwänden, in dem sich seltsame Gestalten bewegen. Eine strickt am laufenden Meter, ein anderer versucht, jeden der auch nur einen Augenblick stehen bleibt, mit Schnüren in eine Paket-Skulptur à la Christo zu verwandeln. Eine dritte zerlegt Plastikpuppen und hängt Arme und Beine wohl sortiert an eine Wäscheleine. Es ist die Art von Wahnsinn, die sich in Paris ein zahlendes Publikum sonntags in der Irrenanstalt Salpétrière anschaute; Ticks und Marotten, wohin man sieht – und die sieben Statisten machen ihre Sache großartig.
Dass man sich eher an die Zeit der Aufklärung erinnert fühlt als an eine Klinik von heute, passt aber genau zum Erzählansatz, den die Oper vertritt. Wahnsinn gehört geheilt, Rationalität muss am Ende wieder hergestellt werden, das romantische Ideal der Liebe, die stärker ist als alle Vernunft, teilten Händels Zeitgenossen nicht. Dass die Musik es sehr wohl kennt und ihm zu überwältigender Macht verhilft, ist der größte Moment des "Orlando". Und vielleicht der Grund, warum das Werk nicht zu Händels Londoner Erfolgsstücken zählte.
Therapie reicht nur für alltägliche Fälle
Partaki führt uns die Versuchsanordnung eines therapeutischen Prozesses vor, an den ja unsere Zeit noch viel lieber glaubt als das 18. Jahrhundert. Was der Selbstoptimierung im Wege steht, muss beseitigt werden. Aber Therapie reicht nur für die alltäglichen Fälle, für die Frustrierten: den Mann, dem es in seiner Ehe langweilig geworden ist, die verlassene Frau, die sich an den Ex klammert, die frisch Verliebte, die das schlechte Gewissen am Genuss ihres neuen Glücks hindert. Die werden resozialisiert entlassen. Orlando ist nicht zu helfen. Mit einem vernichtenden Blick auf die banalen Gesunden zieht er sich am Ende ins Reich der Krankheit zurück. Wenn der Liebeswahn zu zähmen wäre, gäbe es keine Oper.
Das Stück wird überraschend, klug und theatralisch wirkungsvoll erzählt in der Aachener Inszenierung von Jarg Pataki. Eine aufregende Qualität bekommt der Abend durch die Intensität und Genauigkeit, mit der alle Darsteller ihren Figuren Profil geben und sie durchsichtig machen bis in jede Gefühlsregung. Alle agieren mit größter Konzentration und Identifikation, beim Gefühlsextremisten Orlando verdichtet sich das zu einer geradezu unheimlichen Kraft.
Der junge Countertenor Antonio Giovannini ist sensationell im Verschmelzen von gesanglichem und darstellerischem Ausdruck. Verstört, getrieben, panisch, autoaggressiv und gewalttätig – dabei unstillbar sehnsüchtig. Was Giovannini mit expressiver Körpersprache vermittelt, beglaubigt er mit jeder Nuance seines Gesangs. Dass ihm dazu eine beeindruckende stimmliche und technische Souveränität zu Gebote steht, versteht sich von selbst. Das gilt im Übrigen für alle fünf Solisten - Händels virtuose Partien sind in Aachen sehr gut besetzt.
Investitionen in historische Instrumente
Auch der neue Erste Kapellmeister Justus Thorau und das Sinfonieorchester Aachen überzeugen voll und ganz. Es wird in kleiner Besetzung musiziert, die durch einige Barockspezialisten und besondere Instrumente wie die Laute verstärkt ist. Das Ensemble hat inzwischen einen kompletten Satz historischer Instrumente angeschafft und spielt selbstredend auch in der tieferen Stimmung der Barockzeit. Diese Voraussetzungen nutzen die Musiker für eine vitale, sehr kontrastreiche und plastische Interpretation.
Man möchte hoffen, dass sich die Investition in Equipment und Studium der Aufführungspraxis in weiterer regelmäßiger Beschäftigung mit dem Barock fortsetzt. Auch für die Größe und die Akustik des Aachener Hauses ist das Repertoire ideal. Die Begeisterung des Publikums für die Sänger und Musiker war riesengroß – zu Recht. Das Regieteam bekam auch Unmut ab – zu Unrecht.

Orlando
Oper von Georg Friedrich Händel
Inszenierung am Theater Aachen
Regie: Jarg Pataki
Musikalische Leitung: Justus Thorau

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