Hänsch: Verfassungsvertrag lebt in EU-Reform weiter

Moderation: Christopher Ricke |
Der SPD-Europaabgeordnete Klaus Hänsch rechnet für die nahe Zukunft nicht mit einer europäischen Verfassung. Er sei davon überzeugt, dass eine europäische Verfassung in den kommenden 10 bis 15 Jahren nicht möglich sei, sagte Hänsch, ehemals Präsident des Europäischen Parlaments anlässlich der Unterzeichnung des EU-Reformvertrages in Lissabon.
Christopher Ricke: Der SPD-Europaabgeordnete und ehemalige EU-Parlamentspräsident Klaus Hänsch hat es noch einmal auf den Punkt gebracht: Die Ratifizierung des Reformvertrages habe jetzt Priorität, es gehe um Ratifizieren, Praktizieren, Konsolidieren. Guten Morgen, Herr Hänsch.

Klaus Hänsch: Guten Morgen.

Ricke: Jetzt hat es ja gestern im Europaparlament eine Klage gegeben. Europas Skeptiker von ganz rechts und ganz links haben die feierliche Verkündung der Grundrechtecharta gestört, forderten ein Referendum, wollten eine Volksabstimmung zum EU-Reformvertrag. Kann denn jetzt in Lissabon noch was schiefgehen?

Hänsch: Ich denke nicht. Ich meine, das im Europäischen Parlament war eine Minderheit von 50 gegenüber fast 700. Einige Kolleginnen und Kollegen haben ihren Kopf durch den Kehlkopf ersetzt, aber Argumente haben sie nicht vorgetragen.

Ricke: Jetzt bekommen wir ja den Vertrag von Lissabon. Wir wissen alle, das ist eine Krücke, an der die EU humpelt, weil sie keine Verfassung zustande gebracht hat. Werden wir uns an diese Gehhilfe gewöhnen müssen?

Hänsch: Also ich sehe das gar nicht als Krücke an, sondern ich glaube das, und ich bin sicher, dass alle wesentlichen Reformen des Verfassungsvertrages sich auch in dem neuen Reformvertrag wiederfinden. Also wenn man ein Bild benutzen will, dann ist der Rettungsversuch zwar nicht ohne Schrammen abgegangen, aber der Verfassungsvertrag lebt in dem Reformvertrag weiter.

Ricke: Wie tief sind diese Schrammen?

Hänsch: Die Schrammen sind ganz sicherlich, dass es nicht mehr ein in sich geschlossener Verfassungsvertrag ist, sondern ein Artikelvertrag, der die alten Verträge Artikel für Artikel, Absatz für Absatz ändert. Das ist ein Mangel an Transparenz. Die Symbole sind gestrichen worden aus der Verfassung, aber nicht aus der Realität.

Es sind andere, nicht nur Schönheitsfehler, zum Beispiel die doppelte Mehrheit, also das stärkere Gewicht der Bevölkerung bei der Stimmengewichtung im Rat wird bis 2017 aufgeschoben. Das sind so Schrammen, aber im Ganzen sind die Institutionsreformen und die Reform der Entscheidungsverfahren der Europäischen Union so geblieben, wie sie im Verfassungsvertrag vorgesehen waren.

Ricke: Wenn wir heute ein bisschen zurückblicken und die Verfassungskrise uns noch einmal ansehen, die gescheiterten Referenden, die nach wie vor bestehende Angst vor einer Volksabstimmung in vielen EU-Mitgliedsstaaten, was haben denn die überzeugten Europäer eigentlich so falsch gemacht, dass sie die Menschen nicht mitnehmen konnten?

Hänsch: Ich glaube, die haben nicht sehr viel falsch gemacht. Es hat sich ja bei beiden Volksabstimmungen in Frankreich als auch in den Niederlanden gezeigt, dass die Menschen nur zu einem Teil über europäische Dinge abgestimmt haben.

Ein großer Teil hatte mit der innenpolitischen Situation in diesen Ländern zu tun, auch mit dem Erscheinungsbild der aktuellen Brüsseler Politik, aber nicht mit dem Verfassungsvertrag als solchem. Man darf das den Leuten nicht vorwerfen, dass sie die Dinge nicht auseinanderhalten, aber man muss dann als Politiker auch seine Schlüsse daraus ziehen.

Ricke: Welche Schlüsse ziehen wir daraus, dass wir es in Zukunft besser machen müssen?

Hänsch: Wir sagen, dass jedes Land den neuen Vertrag so ratifiziert, wie es in seiner eigenen Verfassung vorgesehen ist. Und da gibt es nur ein einziges Land, das ein Referendum abhalten muss, das ist Irland, die werden das auch tun. Und alle anderen ratifizieren parlamentarisch, so wie es ihre Verfassungen auch erlauben.

Ricke: Sehen wir nach vorn. Wenn Charta und Lissabon-Vertrag vollständig in Kraft sind, um wie viel leichter wird es denn in Europa?

Hänsch: Es wird leichter, Entscheidungen zu fällen, vor allen Dingen im Gesetzgebungsverfahren der Europäischen Union, weil fast alle Gesetze mit ganz, ganz wenigen Ausnahmen mit Mehrheit entschieden werden können im Ministerrat. Das Europäische Parlament wird ein voll gesetzgebendes Parlament, das heißt, in fast allen Gesetzen mitentscheiden auf gleicher Stufe mit den Regierungen. Das ist eine breitere demokratische Legitimation.

Wir werden einen Präsidenten der Europäischen Union bekommen, der hauptsächlich die nationalen Politiken, dort wo es noch um Zusammenarbeit der Regierungen geht, besser koordinieren soll als heute. Und wir werden vor allen Dingen unsere Stellung nach außen in der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik verstärken können.

Und wir haben eine rechtlich verbindliche Grundrechtecharta, mit den Ausnahmen für Großbritannien und Polen, aber das müssen die ihren eigenen Bürgern erklären, das müssen wir nicht tun.

Ricke: Lassen Sie uns über diese beiden Länder reden, lassen Sie uns mit Großbritannien beginnen. Dank der Briten gibt es ja erklärende Formulierungen auch über den Anwendungs- und Geltungsbereich, die man eigentlich nicht zwingend bräuchte. Oder braucht man sie doch?

Hänsch: Nach meiner Auffassung braucht man sie nicht zwingend. Wir waren schon im Verfassungsvertrag bei der Einbettung der Grundrechtecharta in den Verfassungsvertrag sehr vorsichtig, haben auf die britischen Einwendungen gehört. Jetzt wollen sie noch einmal Ausnahmen haben. Im Grunde handeln sie so wie jemand, der seine Hose durch Hosenträger, Gürtel und Gummizug festhalten will. So viel bräuchte man eigentlich nicht.

Ricke: Sehen wir uns noch die Polen an. Wie wichtig ist es denn für Europa, dass der neue polnische Regierungschef Donald Tusk jetzt die Machtprobe im eigenen Lande mit dem Präsidenten, mit Lech Kaczynski gewonnen hat um die Kompetenzen in der Außenpolitik: dass beim EU-Gipfel in Brüssel am Freitag Tusk Polen vertritt und heute bei der Zeremonie beide Politiker da sind?

Hänsch: Also ich halte das für eine gute Entscheidung in Polen, weil es deutlich macht, dass Polen wieder in das Zentrum der europäischen Politik rücken will. Und nicht, wie das unter der bisherigen Regierung geschehen ist, nur am Rande alles zu blockieren versucht. Ich glaube, dass wir mit Polen, auch mit den polnischen nationalen Interessen, die sie ja weiter haben werden, besser umgehen können, als das in der Vergangenheit der Fall war.

Ricke: Wir hatten in der Verfassungsdebatte, als sie noch Verfassungsdebatte hieß, einen Streit um den Gottesbezug. Nun bekommen wir eine Charta mit dem ersten Satz: "Die Würde des Menschen ist unantastbar."

Das ist eine durchaus christliche Haltung, und vielleicht wird ja diese Charta einmal die Verfassung ersetzen müssen. Oder glauben Sie, dass wir in Europa noch mal etwas bekommen, was wirklich Verfassung heißt?

Hänsch: Das wird nach meiner Überzeugung für die nächste Zukunft, für eine überschaubare Zukunft von 10, 15 Jahren nicht möglich sein. Ich glaube nicht, dass die Mehrzahl der Mitgliedstaaten noch einmal in einer absehbaren Zeit an ein solches Unternehmen herangeht.

Aber Sie haben ja völlig recht, in der Grundwertecharta, die ja rechtlich verbindlich geworden ist, gibt es auch Bezüge in den Werthaltungen, die in dieser Grundrechtecharta ausgedrückt sind, zum Christentum. Und ich denke, dass wir damit auch sehr gut in den nächsten Jahrzehnten leben können.