Häusliche Gewalt in der Türkei

Ein Popstar bricht ein Tabu

Eine Frau hält am 8. März 2018 eine Rassel auf einer Demonstration zum internationalen Frauentag hoch.
Theoretisch sind Frauen in der Türkei vor Gewalt gut geschützt. Praktisch nicht. © picture alliance / abaca
Von Susanne Güsten · 06.11.2018
Auf dem Papier haben türkische Frauen alle Rechte: Die Gesetze zum Schutz vor häuslicher Gewalt können internationalen Vergleichen durchaus standhalten. Doch im Alltag sieht es anders aus. Nun erstattete ein Popstar Anzeige.
Hunderttausende Fans jubeln Sıla bei ihren Konzerten zu. Die Popsängerin füllt in der Türkei mühelos Stadien und stellte letzten Sommer den türkischen Zuschauerrekord auf: 250.000 Fans bei einem Konzert in Izmir. Millionen Menschen folgen der Künstlerin auch in den sozialen Medien, wo sie Konzerte ankündigt und Fotos hochlädt. Vor einigen Tagen tippte sie dort eine persönliche Nachricht ein:
"Ich weiß kaum, wie ich anfangen soll, also sage ich es besser direkt: Ich bin Opfer von häuslicher Gewalt geworden. Das ist eine vernichtende Erfahrung, die augenblicklich alles auslöscht, was man im Leben erreicht hat. Es war ein Augenblick, in dem ich in die Augen all der vielen Frauen in diesem Land geblickt habe, die das erleiden. Und jetzt erkenne ich selbst, wie schwer es ist, öffentlich zu sagen: Ich bin Opfer häuslicher Gewalt. Aber ich weiß auch dieses: Wenn ich jetzt schweige, dann verrate ich mich nicht nur selbst, sondern auch alle Frauen dieses Landes."
Dann ging Sıla Gençoğlu, wie sie bürgerlich heißt, zur Staatsanwaltschaft. Vor dem Justizpalast trat sie anschließend dem Blitzlichtgewitter entgegen.
Ja, sie habe Anzeige erstattet, sagte Sıla, und zwar gegen Ahmet Kural – einen bekannten Schauspieler, der bis zu jener Nacht ihr Freund und Lebensgefährte war. Die Einzelheiten sickerten aus dem Protokoll ihrer polizeilichen Aussage durch: 45 Minuten lang wurde die Popsängerin demnach von Kural verprügelt, herumgeschleift und mit dem Kopf an die Wand geschlagen. Ein ärztliches Attest bescheinigte ihr Ödeme am Schädel, Blut im Urin, Abschürfungen an den Gliedern und im Gesicht sowie blaue Flecken am ganzen Körper. Dazu legte ihr Anwalt die Aussagen von Nachbarn aus dem Villenviertel vor, die Sılas Schreie in der Nacht hörten. Anwalt Rezan Epözdemir nach der richterlichen Anhörung:
"Das Gericht hat ein Kontaktverbot gegen Kural verhängt, er darf sich meiner Mandantin drei Monate lang nicht nähern. Wenn er sich nicht daran hält, bekommt sie Personenschutz. Wir haben Strafanzeige gestellt wegen Körperverletzung."

Gesetze werden nicht angewendet

Einen kollektiven Stoßseufzer taten türkische Frauenrechtlerinnen angesichts dieser Szene, die wegen Sılas Prominenz in allen Sendern und Blättern abgebildet wurde. Sie gratuliere Sıla von Herzen und danke ihr für ihren Mut, sagte die Aktivistin Dilber Sünnetcioglu von der Vereinigung der Frauenräte in einer Diskussionsrunde.
Täglich stehe sie auf Gerichtsfluren herum, um Gerechtigkeit für geschlagene und getötete Frauen zu fordern, sagt Sünnetcioglu, weil die Gesetze nicht zur Anwendung kämen. Die Türkei habe ausgezeichnete Gesetze zum Schutz der Frauen – nur würden diese nicht angewendet. Dass Sıla nun den Mut gehabt habe, ihre Rechte einzufordern, werde andere Frauen dazu ermuntern, das auch zu tun.
Nötig wäre das. Nach offiziellen Angaben, die das türkische Innenministerium jetzt erstmals vorlegte, werden in der Türkei monatlich 20 Frauen von Männern totgeschlagen. Aktivistinnen schätzen die Dunkelziffer höher, da viele Fälle als Selbstmord getarnt werden. Monatlich werden fast 15.000 Fälle von häuslicher Gewalt registriert, das sind nahezu 500 verprügelte Frauen pro Tag – ohne die Dunkelziffer. Eine wichtige Ursache ist die verbreitete Verharmlosung solcher Gewalt, auf die sich auch Ahmet Kural in einer öffentlichen Stellungnahme zurückziehen wollte: "Wir haben uns gegenseitig herumgeschubst, dabei habe ich sie einmal am Arm gepackt."

"Das schickt sich nicht für eine starke Frau"

Es sind nicht nur Männer, die zu dieser Verharmlosung von Gewalt beitragen. So meldete sich zum Fall Sıla in den sozialen Medien auch eine andere türkische Popsängerin zu Wort, die deutlich weniger erfolgreich ist als Sıla:
"Sich zu beklagen wie ein kleines Kind, das schickt sich nicht für eine starke Frau und Künstlerin. Rangeleien und Schubsereien gibt es in jeder Beziehung. Und Frauen, die keine Prügel verdienen, bekommen sie auch nicht."
Ihrer Karriere dürfte diese Sängerin damit keinen Gefallen getan haben, denn die Sympathien der türkischen Öffentlichkeit sind eindeutig auf Sılas Seite. Sowohl von anderen Promis als auch von Fans hagelt es Solidaritätserklärungen für die Sängerin. Und ein führendes türkisches Unternehmen kündigte Ahmet Kural jetzt den Werbevertrag.
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