Hans Henning Hahn, Peter Oliver Loew, Robert Traba (Hrsg.): "Deutsch-Polnische Erinnerungsorte"
5 Bände, zuletzt "Erinnerung auf Polnisch"
Ferdinand Schöningh Verlag, Paderborn 2013-2015
44,90 bis 90,00 Euro
Neuer Ansatz in der deutsch-polnischen Geschichtsschreibung
Knapp 3000 Seiten umfasst das Werk "Deutsch-Polnische Erinnerungsorte". Darin setzen sich vorrangig deutsche Wissenschaftler mit polnischen Geschichtsphänomenen auseinander. Am Ende steht die Erkenntnis: Eine einzige deutsch-polnische Geschichte gibt es nicht.
"Deutsch-Polnische Erinnerungsorte" ist das größte deutsch-polnische Projekt seit der Entstehung der deutsch-polnischen Schulbuchkommission Anfang der 70er-Jahre und eines der größten deutsch-polnischen geisteswissenschaftlichen Projekte überhaupt. Rund 115 europäische Autoren sind daran beteiligt.
Dieses interdisziplinäre Projekt des Berliner Zentrum für Historische Forschung der Polnischen Akademie der Wissenschaften und der Universität Oldenburg erforscht eine komplexe Erinnerungsgeschichte und die Erinnerungskultur der Polen und Deutschen. Die Besonderheiten verrät Kornelia Kończal vom Konzeptteam:
"Wir schreiben die so genannte Geschichte zweiten Grades. Das ist eine neue Herangehensweise an die Erforschung der Vergangenheit, wo nicht mehr danach gefragt wird, wie es eigentlich gewesen war, also nicht mehr die Faktografie, sondern wir fragen danach, was die kollektiven Vorstellungen von der deutsch-polnischen Geschichte waren."
Wie wichtig sind Erinnerungen für die Identität eines Volkes?
Die Geschichtsschreibung als "Geschichte zweiten Grades" konzipierte bereits vor über dreißig Jahren der französische Historiker Pierre Nora. Wie entsteht ein kollektives Gedächtnis? Wie verändert es sich? Und wie wichtig sind Erinnerungen für die Identität eines Volkes? Welche Zeichen und Symbole bestimmen eine Gesellschaft? Das sind die Fragen, denen sich die Historiker nach Noras Entwurf widmen. Gerald Schwedler, Dozent im Historischen Seminar an der Universität Zürich, hält diese Theorie für "eine konservative Vorstellung":
"Das Problem ist, dass Nora von außen in einer bestimmten, nationalgeschichtlichen Tradition steht und sagt 'So sind die Erinnerungen'. Und die Erinnerungen sind nie so, wie sie Wissenschaftler eigentlich versuchen zu beschreiben. Also man kann nicht einem Volk zuschreiben, an was es zu erinnern hat und wie es zu erinnern hat, wenn das Volk sich anders erinnern will. Die Erinnerungen werden immer von den Menschen gemacht, die vor Ort sind, die leben und die damit umgehen. Und jede Generation ändert sich. Und jede Generation hat auch das Recht, alte Erinnerungsorte zu entrümpeln, zu vergessen. Das ist das Dynamische, das eigentlich in jeder Erinnerung hängt und das Nora einfach übersieht."
Dessen sind sich die Herausgeber jedoch bewusst. Die essayistischen Beiträge verordnen keine eindeutige Interpretation, sondern bieten verschiedene Deutungsvorschläge an. Auch Georg Kreis, Professor für Geschichte an der Universität Basel und Forscher zu den Schweizer Erinnerungsorten, verteidigt die Herausgeber. Sie seien sich der Wandelbarkeit der Erinnerungsorte durchaus bewusst:
"Sie wollen nicht orthodox, dogmatisch, kanonisch die Bedeutung darlegen, sondern sie setzen sich mit den Bedeutungsgebern auseinander und mit den Konjunkturen, die die Dinge haben. Und dass man hier als Leserin und Leser den Wandel in der Bedeutung erfährt, halte ich für eine ganz wichtige Erfahrung."
Unter dem metaphorischen Begriff "Erinnerungsort" hätte man sich beinahe alles vorstellen können, was historische Bezugspunkte der kulturellen Identität einer Gesellschaft bezeichnet und durchaus Sinn macht, erklärt Professor Robert Traba, Direktor des Berliner Zentrums für Historische Forschung. Er ist der Motor des Projekts:
"Es geht nicht nur um topographische Orte, sondern es geht um Artefakte, um Ereignisse, um Persönlichkeiten, die gewisse Symbole bis heute sind und unsere Wahrnehmung gestalten."
Geschichte ist von Beziehungen zwischen Nationen geprägt
Das Neue an dem Projekt: Noras Theorie verschmilzt mit der von Klaus Zernack. Für Zernack ist die Geschichte vor allem von Beziehungen zwischen verschiedenen Nationen geprägt. Sie sind nicht nur politisch, sondern gleichzeitig auch kulturell, regional, konfessionell, wirtschaftlich und so weiter. Zudem werden parallele Erinnerungsorte untersucht, die nur in der einen Gesellschaft vorkommen und in ihr eine spezifische Funktion für deren Erinnerungshaushalt erfüllen.
Manche Erinnerungsorte, wie etwa "Ostpreußen" und "Ermland und Masuren" als die "verlorene Heimat" versus "wiedergewonnene Gebiete" können einfach politisch instrumentalisiert werden, beschreibt Dr. Rafał Żytyniec in seinem Beitrag:
"Ostpreußen war ein Teil des deutschen Ostens, das ist ja klar, mit dieser ganzen Ideologie. Und Ermland und Masuren das ist ja ein Gegenbegriff zu dem des deutschen Ostens. Diese Reduzierung von Ostpreußen auf Ermland und Masuren erfolgte aus dem Grunde, weil diese beiden Ethnien, Ermländer wie auch Masuren, die hatten polnische Bezüge. Auf die hat man zurückgegriffen um die Polonität dieses Gebietes zu beweisen. Also es waren zwei nationale Konstrukte, die miteinander konkurriert haben, und die bestimmte Ansprüche auch legitimieren sollten. Das heißt, den polnischen Anspruch auf die 'wiedergewonnenen' Gebiete, sowie in Deutschland den deutschen Anspruch auf den Osten."
In vielen deutsch-polnischen Debatten werden Geschichte beziehungsweise Geschichtsbilder in den Dienst aktueller politischer Bedürfnisse gestellt. Das Projekt schafft aber eine kritische Distanz zur Instrumentalisierung der Vergangenheit. Und die Erinnerung selbst? Sie wirkt in der Geschichte, ist aber nicht Geschichte, sondern nur eine Interpretation von Ereignissen, die geschehen sind. Und die verändert sich. Das menschliche Gedächtnis wird nämlich pausenlos überschrieben und ausradiert. Normalerweise erinnern wir uns höchst subjektiv und selektiv. Außerdem hat unsere Erinnerung blinde Flecken. Gerade dieses Spannungsverhältnis zwischen Wirklichem und Vorgestelltem machte es reizvoll, diese Phänomene zu erforschen:
"Ich erinnere mich an das, was ich heute an Erinnerung brauche. Wenn ich das nicht brauche, brauche ich mich auch nicht dran zu erinnern. Das heißt, das Bedürfnis der Gegenwart bestimmt, was und wie ich das erinnere. Normalerweise vergessen wir das, was wir nicht brauchen und holen es aus der Vergessenheit wieder heraus, wenn wir es brauchen. Und dabei stellen wir fest, dass es keinen Modus gibt, dass die Art und Weise, wie man erinnert, bei allen Menschen gleich ist. Die Geschichtswissenschaft muss das anders machen. Die Geschichtswissenschaft kann sich auch und sollte sich auch mit Dingen befassen, die man nicht unbedingt jetzt aktuell braucht. Das ist die Rolle von Wissenschaft, aber sie ist etwas anderes, wenn sich Gesellschaften erinnern."
... sagt Professor Hans Henning Hahn, Osteuropahistoriker und Mitherausgeber der "Deutsch-polnischen Erinnerungsorte".
Knapp dreitausend Seiten des Mammutwerks verkörpern einen neuen Ansatz in der Geschichte der deutsch-polnischen Beziehungen. "Deutsch-polnische Erinnerungsorte" helfen die Schwarzmalerei in der Betrachtung der Vergangenheit zu beenden. Überwiegend setzen sich in diesem Projekt deutsche Wissenschaftler mit polnischen Geschichtsphänomenen auseinander, so wie sich die polnischen mit den deutschen beschäftigen, ergänzt durch Artikeln aus Drittländern wie Tschechien, Frankreich, Italien und der Schweiz.
Das Credo der Wissenschaftler: Es gibt keine einzige deutsch-polnische Geschichte, sondern viele verschiedene. Endlich können diese auch wahrgenommen werden.