Bandengewalt in Haiti
Die Polizei in Haiti kann der zunehmenden Bandengewalt im Land kaum mehr etwas entgegensetzen. Zwei Millionen Menschen, darunter 1,6 Millionen Frauen und Kinder, lebten in Gebieten, die von Banden kontrolliert würden, schätzt Unicef. © imago / ZUMA Wire / Jose A. Iglesias
Der Karibikstaat versinkt im Chaos
Bandengewalt, politisches Chaos, Armut, Hunger: Haiti hat seit Jahren viele Probleme. Nun ist Interims-Premierminister Ariel Henry zurückgetreten, mehr als 360.000 Menschen sind auf der Flucht. Was sind die Gründe für Haitis desolaten Zustand?
Im Karibikstaat Haiti eskaliert seit Ende Februar 2024 die Gewalt. Bewaffnete Banden haben Polizeistationen, Gerichte und Gefängnisse angegriffen, mehr als 4.500 Häftlinge sind ausgebrochen. Die Regierung hat Anfang März den Notstand ausgerufen und eine nächtliche Ausgangssperre verhängt.
Zuletzt hatten sich die zwei wichtigsten bewaffneten Banden des Landes zusammengeschlossen. Ihr Anführer Jimmy Chérizier, auch bekannt als "Barbecue", forderte Interimsregierungschef Ariel Henry zum Rücktritt auf und drohte mit einem Bürgerkrieg. Wegen der Gewalt konnte Henry nicht von einer Auslandsreise zurückkehren. Am 12. März 2024 erklärte Henry seinen Rücktritt.
Die kriminellen Banden in Haiti übernahmen nach der Ermordung von Präsident Jovenel Moïse im Jahr 2021 vielerorts de facto die Kontrolle. Neben der politischen Instabilität und den Unruhen ist das Land auch von einer wirtschaftlichen Krise gebeutelt.
Wie ist die politische Lage in Haiti?
Haiti steckt in einer tiefen politischen Krise. Kurz nach dem Mord an Präsident Jovenel Moïse im Juli 2021 übernahm Ariel Henry die Regierungsgeschäfte in Haiti. Seitdem haben keine Wahlen stattgefunden. Haiti hat weder einen Präsidenten noch ein Parlament.
Eigentlich hätte Henry Anfang Februar aus dem Amt scheiden sollen. Stattdessen hat er sich mit der Opposition auf gemeinsames Regieren verständigt, bis innerhalb von zwölf Monaten Neuwahlen abgehalten werden sollen.
Nach dem Tod Moïses war das Land in ein politisches Chaos gestürzt, das Verbrecherbanden nutzten, um ihren Einfluss auszubauen. Bei einem Massaker im August 2023 in der Stadt Carrefour-Feuilles wurden 100 Menschen getötet. Auch Fälle von Vergewaltigungen wurden dokumentiert, viele Häuser wurden angezündet. Inzwischen werden 80 Prozent der Hauptstadt von kriminellen Banden tyrannisiert.
In dieser extrem angespannten Situation versucht sich der westliche Nachbarstaat, die Dominikanische Republik, weiter abzuschotten, und nimmt keine Menschen aus Haiti auf. „Seit Jahren baut das Land an einer Mauer, so wie die USA, um Migranten abzuwehren“, sagt Korrespondentin Anne Demmer.
So habe die dominikanische Regierung zwischen November 2022 und August 2023 mehr als 120.000 Migranten aus Haiti abgeschoben. Menschen, denen doch die Flucht in die Dominikanische Republik gelinge und die entdeckt würden, versuche man mit Stockschlägen und Elektroschockern wieder zurückzudrängen.
Welche Verantwortung tragen die Eliten?
An der Situation seien die Eliten des Karibikstaates mit Schuld, sagt Andrea Steinke vom Centre for Humanitarian Action: „Diejenigen innerhalb der Elite, die die Gangster zu ihrem eigenen Machterhalt genutzt haben, haben nun gewissermaßen tatsächlich die Kontrolle über diese Gangs verloren.“
Mitglieder von Haitis Banden sind laut Steinke sehr oft junge Männer mit einem hohen Maß an Frustration. Ihnen fehle die Chance auf ein gutes Leben in dem Karibikstaat. Die Situation sei paradox: Die Gangs sorgten in einigen Gebieten Haitis für „eine Art Sicherheit“: Sie übernehmen Aufgaben, die der Staat nicht übernimmt, etwa bei der Sicherheit oder dem Zugang zu Nahrungsmitteln.
Haiti habe eine historische Tradition, „nicht staatliche Gewaltakteure“ wie kriminelle Banden einzubinden, um auf gesellschaftlicher und politischer Ebene Druck auszuüben, erklärt auch der Politologe Markus-Michael Müller. Solange eine ökonomisch-politische Elite, die nicht notwendigerweise im Sinne der Bevölkerung agiere, weiterhin mit externen Geldzuflüssen an der Macht gehalten werde, seien diese strukturellen Probleme auch nicht zu beheben, sagt Müller.
Warum ist die humanitäre Situation in Haiti so katastrophal?
Haiti gilt als das ärmste Land der westlichen Hemisphäre. Es wurde in den vergangenen Jahren zudem von Naturkatastrophen wie Erdbeben und Wirbelstürmen erschüttert. Ein besonders schweres Beben traf Haiti 2010. Hunderttausende Menschen starben.
„Das Land wurde nachhaltig beschädigt“, sagt Andrea Steinke. Dazu kam eine Cholera-Welle, die seit Beginn im Oktober Hunderte Menschenleben gefordert hat.
Laut UN leidet fast die Hälfte der rund elf Millionen Einwohner unter akutem Hunger. Mangelernährung und Hunger seien ein „sehr, sehr großes Problem im Moment in Haiti“, erklärt Andrea Steinke. Die Gewalt vor allem in der Hauptstadt Port-au-Prince führe dazu, dass viele Menschen kein Geld verdienen könnten. „Und gleichzeitig ist Haiti eines der zehn meist betroffenen Länder vom Klimawandel“, so Steinke.
Angesichts der jüngsten Gewalt-Eskalation hat sich die prekäre humanitäre Lage in Haiti noch einmal deutlich verschärft: Mehr als 360.000 Menschen sind inzwischen nach Angaben der Internationalen Organisation für Migration (IOM) innerhalb Haitis vor der Gewalt geflohen.
Die IOM berichtet im März 2024, dass auch die Gesundheitsversorgung stark beeinträchtigt ist: Banden hätten mehrere Krankenhäuser angegriffen, sodass Ärzte und Patienten die Kliniken verlassen mussten - unter ihnen neugeborene Babys. Vertreter von UN-Organisationen haben in einer gemeinsamen Erklärung davor gewarnt, dass 3.000 schwangere Frauen möglicherweise keinen Zugang mehr zu medizinischer Versorgung haben. 450 von ihnen drohten so "tödliche Komplikationen".
Gibt es Hilfe von der internationalen Gemeinschaft?
Anfang Oktober hatte der UN-Sicherheitsrat einer internationalen Polizeimission unter kenianischer Führung zugestimmt. Kenia erklärte sich bereit, 1.000 Mann zu entsenden. Jamaika, die Bahamas sowie Antigua und Barbuda sagten ebenfalls Personal zu. Zuletzt wollte zudem Benin 2.000 Soldaten schicken.
Unter anderem Amnesty International sieht das Engagement Kenias kritisch, denn die kenianische Polizei steht selbst in der Kritik, schwere Menschenrechtsverletzungen begangen zu haben, die Kenianer sprechen außerdem Englisch und Suaheli statt Französisch und Kreol, den Sprachen in Haiti.
Eine Mehrheit der Bevölkerung lehne ohnehin eine Intervention ab, meint Expertin Andrea Steinke vom Centre for Humanitarian Action. Als Premierminister Henry im Oktober 2022 die UN um Unterstützung bat, gingen Tausende Menschen zu Protesten auf die Straße. Für die Skepsis der Menschen gebe es aber auch sehr gute Gründe, so Steinke, denn Haiti habe eine lange Geschichte teils unrühmlicher ausländischer Interventionen.
Erschwerend kommt hinzu, dass die Gangs „Teil der sozialen und politischen Infrastruktur des Landes“ sind, so Steinke. „Sie sitzen quasi im Leben der Menschen. Gegen sie militärisch vorzugehen, in ihre Viertel einzudringen und das ohne Gewalt, Verlust und Tod an der Zivilbevölkerung, scheint hier schier unmöglich.“
Auch die haitianischen NGOs stehen der internationalen Polizeimission kritisch gegenüber. Die finanzielle Unterstützung solle lieber in vorhandene Strukturen fließen, zuerst müsse die Justiz gesäubert werden, argumentieren sie.
Welche Rolle könnten die USA und Kanada spielen?
Das Interesse an einer Beruhigung der Lage in Haiti sei besonders aufseiten der USA und Kanada hoch, sagt Andrea Steinke, "weil die folgenden Migrationsbewegungen sich traditionell immer in diese Richtung bewegen".
Wesentlich geringer ist offenbar das Interesse, an einer solchen Mission teilzunehmen. Immerhin haben die USA im Oktober finanzielle Unterstützung zugesagt. Anfang März forderte die US-Regierung zudem Interimsregierungschef Ariel Henry auf, den politischen Übergang zu beschleunigen.
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