Haiti in der Dauerkrise

Korruption, Katastrophen und Kidnapping

21:45 Minuten
Eine brennende Barrikade in Haitis Hauptstadt Port-au-Prince. Dahinter geht eine Person mit einer Schubkarre die Straße entlang.
Proteste und bürgerkriegsähnliche Zustände: eine brennende Barrikade in Haitis Hauptstadt Port-au-Prince. © imago / Agencia EFE / Jean Marc Herve Abelard
Von Anne Demmer |
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Haiti steckt in einer politischen Dauerkrise. Von dem Erdbeben vor mehr als zehn Jahren hat sich das Land nie richtig erholt. Brennende Barrikaden, Entführungen und die Gewalt von Gangs prägen den Alltag des Karibikstaates. Wie lange noch?
Jimmy "Barbecue" Cherizier ist ein kleiner dicker Mann. Er trägt einen schwarzen Kapuzenpullover, eine Dreiviertel-Jeans-Shorts, dazu Badelatschen und weiße Tennissocken. Seinem Besuch bietet er zunächst Platz auf einem zerschlissenen Sofa, das am Rande einer Straße in Delmas steht, einem Armenviertel von Port-au-Prince.

Mit Haftbefehl gesucht

Obwohl ein Haftbefehl gegen ihn vorliegt, ist es nicht schwer, ihn am helllichten Tag auf offener Straße zu treffen. Eines der schwersten Massaker im Armenviertel La Saline mit Dutzenden Toten soll auf sein Konto gehen. Konfrontiert man ihn damit, zuckt er nur mit den Schultern. "Das muss mir erst einmal jemand beweisen. Ich habe noch nie jemanden umgebracht."
Ein Mann in dunkelblauem Sweater steht neben einem Haus und schaut kritisch. Im Hintergrund geht ein Jungen über die Straße.
Täter oder Wohltäter? - Jimmy Cherizier ist auf jeden Fall eine zwielichtige Figur.© Anne Demmer, ARD-Studio Mexiko
Der Ex-Polizist stilisiert sich gerne als Retter. Auf einem Facebook-Account unter seinem Namen steht als Beruf – Robin Hood, König der Armen. Jimmy Cherizier will die Misere in seinem Stadtteil Delmas zeigen. Er weist auf einen Hauseingang, in dem die Bewohner ihre Fäkalien ausgekippt haben.
"Hier in diesem Stadtteil ist weder die Regierung noch die Opposition präsent. Die Menschen haben noch nicht einmal eine Toilette, um ihre Notdurft zu verrichten. Es gibt weder Krankenhäuser noch Schulen."

Er posiert gerne mit den Sturmgewehr

Bewohner, die dem 44-Jährigen entgegenkommen, grüßen ihn. Er hebt die Hand, nickt kurz. Hier hat er das Sagen. Für Fotos posiert er gerne mit dem Sturmgewehr – wie auf Bildern im Netz zu sehen ist. Für dieses Treffen ist er ohne Waffen unterwegs.
Im Schlepptau hat er eine Entourage junger Männer, die ihm nicht von der Seite weichen. Nervös scheint er nicht. Nur einmal beschleunigt er seinen Schritt, biegt schnell um die Ecke, eine verfeindete Gang sei im Anmarsch.
Frauen in bunten Kleidern begutachten die Ware auf einem Markt.
Das ärmste Land der westlichen Hemisphäre – ein Markt in Delmas in Port-au-Prince.© Anne Demmer, ARD-Studio Mexiko
Der Tross läuft über einen Markt, vorbei an einer älteren Frau, die an ihrem Stand Fisch und Fleisch verkauft, das in der Sonne vor sich hin gammelt. Ein paar Kinder hocken im Schatten am Straßenrand, schlagen die Zeit tot.
"Wenn wir nicht für die Menschen kämpfen, was soll dann aus der nächsten Generation werden?", sagt Jimmy Cherizier. Er schimpft über die Opposition, hat aber durchaus nette Worte für den Präsidenten Jovenel Moïse übrig.
"Moïse hat zumindest den Willen, etwas in unserem Land zu verändern. Das Problem ist lediglich, dass er von der Bourgeoisie, reichen Menschen umgeben ist, die ihm sagen, was er tun soll. Und die Opposition strebt sowieso nur nach Macht und Geld."
Ein Mann mit kahlem Kopf, blauem Jacket und roter Krawatte steht an einem Rednerpult und breitet die Arme aus.
Beste Verbindungen zu kriminellen Banden? - Haitis Präsident Jovenel Moïse regiert seit einem Jahr per Dekret. © imago / Orlando Barra
Das Land leide unter einem korrupten System, das nur durch eine bewaffnete Revolution zerschlagen werden könne. Was genau Cherizier damit meint, woher die Waffen dafür kommen, dazu will er für den Moment nicht mehr sagen.

Gibt es eine Verbindung zwischen Gangs und Regierung?

Erst im Juni letzten Jahres hatten sich unter seiner Führung verschiedene Gangs zur G9 – Familie und Verbündete – zusammengeschlossen. In einem Video, das auf Youtube zu sehen ist, verkündet er die Gründung. In hellblauem Anzug und Krawatte spricht er in die Kamera als würde er gerade eine neue Partei gründen.
Verschiedene internationale Menschenrechtsorganisationen sehen eine klare Verbindung zwischen den Gangs und der Regierung. Auch der Wirtschaftswissenschaftler und Politologe von der State University von Haiti, Camille Chalmers, sieht den Zusammenhang.
"Wenn man sich den politischen Diskurs von den Gangleadern anhört. Sie scheuen es nicht, in der Öffentlichkeit aufzutreten. Sie geben ja quasi Pressekonferenzen. Sie verteidigen die Regierung, attackieren aber andererseits immer wieder die Opposition.
Es gibt einen Haftbefehl für Jimmy Cherizier. Die Vereinten Nationen haben Haiti dazu aufgerufen, ihn endlich vor Gericht zu bringen. Aber der läuft hier noch völlig frei rum, ohne sich überhaupt über irgendetwas Gedanken zu machen. Die Straflosigkeit ist ein fundamentales Problem und erklärt die Macht der Banden."

4,4 Millionen Menschen leben unter der Armutsgrenze

Seit rund einem Jahr regiert Präsident Moïse per Dekret. Nach Lesart der Opposition ist sein Mandat seit dem 7. Februar bereits abgelaufen. Doch Moïse will den Präsidentensessel nicht verlassen. Er plant ein Verfassungsreferendum und Wahlen im September, um erst im nächsten Jahr seinen Platz zu räumen.
Gewählt wurde er nur mit 18 Prozent der Wählerstimmen. Von Anfang an war seine Regierung von Protesten begleitet. Als Moïse die Subventionen für Treibstoff entzog, brannten erstmals die Barrikaden. Auch wenn er diese Maßnahme wieder rückgängig machte, hielt die Wut auf der Straße an, ging der Protest weiter – wegen der Inflation, der Massenarbeitslosigkeit, der Armut. Rund 4,4 Millionen Menschen leben unter der Armutsgrenze, sind auf humanitäre Hilfe angewiesen.
Ein Mann kippt einen Eimer mit Abfällen eine Mauer hinunter in ein kärgliches Gewässer, in dem schon jede Menge Müll liegt.
Wo der Müll in den Fluss gekippt wird: im Armenviertel Delmas auf Haiti.© Anne Demmer, ARD-Studio Mexiko
2019 ergaben Untersuchungen des Senats und des Rechnungshofes, dass Vorgängerregierungen, aber auch der amtierenden Präsident Milliardenbeträge veruntreut haben, die eigentlich für soziale Projekte gedacht waren.

Ist Haitis Präsident Moïse korrupt?

Die Aktivistin Emmanuelle Douyon von der Antikorruptionsorganisation "Nou pap domi" – "Wir schlafen nicht" – hat daraufhin Bürgerproteste organisiert.
"Es gibt drei Berichte des Rechnungshofes, die diverse Korruptionsfälle dokumentieren. Gerechtigkeit gibt es nach wie vor nicht. Niemand wurde bislang verurteilt. In dem ersten Report, der 2019 veröffentlicht wurde, wird auch die Verwicklung von Präsident Moïse selbst dokumentiert. Zu diesem Zeitpunkt haben wir bereits seinen Rücktritt gefordert."
Eine Frau in pink  und toupierter Frisur steht vor einem pink Haus. Im Hintergrund Palmen.
"Gerechtigkeit gibt es nach wie vor nicht", sagt die Aktivistin Emmanuelle Douyon.© Anne Demmer, ARD-Studio Mexiko
Den Berichten des Rechnungshofs zufolge sind mehrere Milliarden US-Dollar aus dem venezolanischen Programm Petrocaribe in die Taschen von Politikern und Unternehmern aus dem In- und Ausland geflossen. Auch in die zwei Firmen des amtierenden Präsidenten Moïse. Eine Anklage hat es nie gegeben.

Proteste und bürgerkriegsähnliche Zustände

Nach diesen Berichten kam es erneut zu massiven Protesten. Eine breite Opposition hat sich in den letzten Jahren gegen den Präsidenten formiert – angeschlossen haben sich Politiker, Intellektuelle, Richter, Gewerkschafter, junge Aktivisten. Immer wieder ging die Polizei repressiv gegen die Demonstrantinnen und Demonstranten vor, setzte Tränengas ein. Das öffentliche Leben kam zum Erliegen. Es herrschten teils bürgerkriegsähnliche Zustände.
Zur politischen Krise kommt nun noch die Pandemie dazu. Viele befürchteten eine weitere Katastrophe für das krisengebeutelte Land, das sich seit dem Erdbeben vor rund zehn Jahren nie wieder richtig erholt hat, immer wieder auch von Wirbelstürmen getroffen wurde.
Ein Frau mit einem gestreiften Sommerkleid lehnt an eine Mauer. Im Hintergrund hängt Wäsche zwischen zwei Häusern, zwei Kinder spielen.
Ein Kühlschrank als einziges Kapital: Die Haitianerin Josiana lebt mit ihrem Baby in einer Wellblechhütte in einem Armenviertel von Port-au-Prince.© Anne Demmer, ARD-Studio Mexiko
"Unser Gesundheitssystem funktioniert nicht. Es ist quasi nicht existent. Wenn deine Kinder krank werden, dann ist es schwierig, überhaupt Hilfe zu bekommen", beklagt Josiana. Sie ist arbeitslos. Ihr einziges Kapital ist ein guter Kühlschrank, in dem sie Getränke lagert, die sie verkauft.
Neben ihrer Wellblechhütte türmen sich die Müllberge: Plastik vermischt sich mit verrotteten Tomaten – Ziegen und Schweine wühlen im Unrat. Der Geruch nach Fäkalien und Urin liegt in der Luft. Sauberes fließendes Wasser gibt es nicht.

"Wir haben hier die Pandemie gut bewältigt"

Die 32-Jährige lebt hier zusammen mit einer Freundin und zwei kleinen Kindern. Ihr sechs Monate altes Baby hält sie im Arm. "Trotz dieser Zustände haben wir hier die Pandemie gut bewältigt. Wir haben alle Regeln befolgt, unsere Masken getragen."
Mittlerweile hält sie einen Mundschutz nicht mehr für nötig. Remont lebt nur ein paar Häuser weiter in einem Haus aus nackten grauen Betonsteinen. Er glaubt, dass es die Pandemie nie gegeben hat. "Es wurde viel über Corona gesprochen. Aber hier ist das keine Realität. Wir leben hier dicht an dicht, und trotzdem ist nichts passiert."

Das Gesundheitsministerium hat schnell reagiert

In seinem Umfeld sei niemand gestorben. Die Ärztin Marie Macelle Deschamps arbeitet für eines der größten privaten gemeinnützigen Gesundheitszentren in Port-au-Prince. Sie versorgt Menschen in einem Armenviertel der Stadt. Sie kamen in der Vergangenheit mit Aids, Cholera oder Chikungunya zu ihr. Sie hat die Folgen des Erdbebens miterlebt, und nun die weltweite Pandemie.
"Der Höhepunkt in Haiti war so im Mai, Juni. Viele Menschen hatten Angst. Diejenigen, die es bekommen haben, wurden stigmatisiert. Und gerade auch bedingt durch die politische Krise in Haiti glaubten viele nicht daran, dass die Pandemie überhaupt existierte. Sie hielten es für eine Lüge."
Weil sie der Regierung nicht glaubten. Doch das Gesundheitsministerium habe schnell reagiert. Die Grenzen der Karibikinsel wurden schnell geschlossen, die Flughäfen für rund drei Monate dichtgemacht.
"Am Ende hat die Pandemie Haiti kaum getroffen, im Gegensatz zur Dominikanischen Republik, die direkt nebenan liegt. Die Ansteckungszahlen gehen zurück. Wir schicken Mitarbeiter in die Communities, die tatsächlich von Tür zu Tür gehen und Fragen zu möglichen Symptomen stellen. Es ist wirklich unglaublich, wenn wir uns die Kurve seit dem letzten Höhepunkt anschauen: Haiti ist auf einem guten Weg."

Vorteil: Es gibt keine Klimaanlagen

Eine richtige Erklärung hat die Ärztin dafür noch nicht. Ein Forschungsprojekt würde sich derzeit damit befassen. "Es könnte zum einen sein, dass die Haitianer in der Vergangenheit so vielen Infektionskrankheiten ausgesetzt waren und daher eine Immunität entwickelt haben. Ein weiterer Punkt sind die Lebensverhältnisse: Es gibt keine Klimaanlagen. Die Menschen haben kaum Türen oder richtige Fenster, haben also immer frische Luftzufuhr."
Zudem sei es eine extrem junge Bevölkerung. Doch die Ärztin warnt vor voreiligen Schlüssen. Man müsse die Situation weiter beobachten und auswerten.
"Wir haben rund 8000 Menschen getestet. 49 Prozent haben Antikörper aufgewiesen. Viele von ihnen waren sich gar nicht darüber bewusst, dass sie Corona hatten. Sie waren asymptomatisch. Wir können von Glück sagen, dass die Pandemie uns nicht so hart getroffen hat."

Die Gewalt ist bedrohlicher als die Pandemie

Der Impfprozess hat in Haiti allerdings noch nicht begonnen. Erst kürzlich hat die haitianische Regierung eine COVAX-Lieferung mit Astrazeneca abgelehnt. In einem ersten Schritt hätte der Karibikstaat 756.000 Dosen des Impfstoffs bekommen sollen. Das Land bat um einen für Haiti besser geeigneten Impfstoff, auch weil es kaum Kühlungsmöglichkeiten gebe und aus Angst, dass die Bevölkerung selbst den Impfstoff nicht akzeptieren würde, wie es heißt.
Hört man sich in Port-au-Prince um, hat die Pandemie keine große Bedeutung. Die Gewalt, die alltäglichen Kidnappings prägen den Alltag der Menschen. Zuletzt sollen es zehn am Tag gewesen sein. Viele Menschen trauen sich kaum noch aus dem Haus. Selbst kurze Strecken mit dem Auto planen sie sorgfältig, aus Angst in einen Hinterhalt zu geraten.
Ein junger Mann mit Rasta-Locken und rot-weiß gestreiftem T-Shirt steht in der Diele seiner Wohnung.
"Ich war quasi schon ein toter Mann", erzählt der Student Junior. Er wurde gekidnapped, hat Glück und überlebte.© Anne Demmer, ARD-Studio Mexiko
Vor wenigen Monaten hat es Junior Albert Augusma getroffen. Der Linguistik-Student jobbte als Übersetzer an einem Filmset, außerhalb der Stadt. Auf dem Weg von der Arbeit nach Hause wurden er und zwei Kollegen einer Produktionsfirma aus der Dominikanischen Republik gekidnapped und sechs Tage festgehalten.

Die Kidnapper wollten zwei Millionen Dollar

Draußen hörten sie immer wieder Schüsse, erinnert sich Junior. "Ich war quasi schon ein toter Mann. Ich dachte, das war es. Unter den Entführern war auch ein 16-Jähriger – noch ein Junge. Er hatte eine automatische Waffe, die er neben mir geladen hat. Aber mit der Waffe hört er auf, ein Kind zu sein. Ich war älter als die meisten von den Entführern."
Zwei Millionen Dollar verlangten seine Kidnapper. Das Geld hätte seine Familie nie beschaffen können. Doch auf Druck des dominikanischen Staates wurde die haitianische Regierung aktiv, das sei sein Glück gewesen, erzählt Junior. Sie kamen frei.
"Ich komme nicht darüber hinweg, dass mir so etwas in einem Land passiert, dass ich aus tiefstem Herzen liebe. Es ist nach wie vor so, dass es mich nervös macht, wenn mich auf der Straße jemand ansieht."

Nur die junge Generation kann etwas ändern

Junior lebt in einer Hausgemeinschaft im Zentrum von Port-au-Prince. Seine Mitbewohner machen Musik, sie unterstützen sich gegenseitig, halten sich zusammen über Wasser. Einer seiner Mitbewohner ist besorgt.
"Auch wir könnten jederzeit entführt werden. Es kann jeden treffen. Hier gibt es keinen sicheren Ort. Wir müssen etwas tun. Wir müssen protestieren, uns wehren, damit sich etwas verändert. Unsere Generation muss in die Regierungsverantwortung kommen. Nur unsere Generation kann etwas ändern. Wir kämpfen für Freiheit und ein besseres Leben."
Ein junger Mann mit langen Rastalocken und mit einem bedruckten weißen T-Shirt sitzt mit anderen in einer Wohnung.
"Auch wir könnten jederzeit entführt werden", sagt ein Mitbewohner von Junio Albert Augusma.© Anne Demmer, ARD-Studio Mexiko
Doch gerade junge Menschen verlassen das Land. Sie sehen keine Perspektive für sich. Viele versuchen ihr Glück deswegen im Nachbarland, beobachtet der stellvertretende Direktor der Stiftung Wissenschaft und Politik Günther Maihold.
"Der Auswanderungsdruck in Richtung Dominikanische Republik macht sich bemerkbar, was dann zu Schwierigkeiten mit dem Nachbarstaat führt. Aber man darf auch nicht vergessen, es gibt eine große haitianische Diaspora in den USA, die auch dafür sorgt, dass Einkommen wieder zurückgeleitet wird über Rücküberweisungen an die Familienangehörigen. Aber die Neigung der Suche nach einer Zukunft im Ausland ist das dominante Muster."

Die Flucht ins Ausland ist auch kein Ausweg

Für eine Zukunft in der Dominikanischen Republik sind die Aussichten nicht rosig. Das Nachbarland will dem ehemaligen US-Präsident Donald Trump nacheifern und eine Mauer bauen. Auch in den USA sah es zuletzt nicht besser aus.
4000 Haitianer hängen laut Aktivisten momentan im mexikanischen Tijuana an der Grenze zu den Vereinigten Staaten fest. Laut dem" Invisible Wall Report" von haitianischen und US-amerikanischen NGOs wurden in den ersten drei Monaten der Regierung Biden rund 1200 Haitianer in ihre Heimat abgeschoben, das ist weit mehr als im letzten Jahr unter dem damaligen Präsidenten Donald Trump.
Doch angesichts der sich immer weiter zuspitzenden Lage in Haiti erklärte das US-Ministerium für Innere Sicherheit jüngst, dass es vorerst die Deportationen aussetzen will. Ein Schritt, der für viele Beobachter längst fällig war.

159 Tote durch Bandengewalt in einem halben Jahr

Derweil lässt der Terror nicht nach. Allein im ersten Hälfte des vergangenen Jahres fielen laut der UN in Haiti 159 Menschen der Bandengewalt zum Opfer. Die Vereinigung "Défenseurs Plus" zählt sogar 400 Tote. Und in diesem Klima der Gewalt will Moïse sein Verfassungsreferendum und Wahlen im September abhalten. Auf die Unterstützung der USA könne sich Präsident Jovenel Moïse nach wie vor verlassen, sagt der haitianische Politologe Wilson Jean-Baptiste.
"Die USA brauchen Haiti als Verbündeten, um in den internationalen Gremien gegen Kuba und Venezuela zu stimmen. Ansonsten interessieren sie sich nicht für Haiti. Das haben wir während der Diktatur von Duvalier gesehen. Die USA haben ihn machen lassen, was er wollte."
Für Günther Maihold verfolgen die USA zwei Interessen. Zum einen wolle die amerikanische Regierung verhindern, dass Haiti zum weiteren Drogentransferstandort in der Karibik wird.
"Da sind ja erhebliche Dynamiken wieder aufgekommen, die über die Dominikanische Republik, Puerto Rico und so weiter laufen, und zum zweiten will man noch verhindern, dass es eine Situation völliger Unregierbarkeit gibt, wo man dann gezwungen wäre, sich zu engagieren. Und deswegen versucht man das geringere Übel zu favorisieren, indem man den Präsidenten noch stützt."

Es gibt keine einfache Lösung für Haiti

Eine einfache politische Lösung werde es nicht geben, meint der haitianische Politologe Wilson Jean-Baptiste.
"Wenn Moïse bis Februar 2022 an der Macht bleibt, dann wird die Situation schlimmer. Es wird mehr Gang-Gewalt geben, mehr Aufstände, Proteste. Es wird auch die Proteste der Opposition verstärken. Eine andere Möglichkeit wäre, dass Moïse zurücktritt oder aber eine Übergangsregierung mit der Opposition und der Zivilgesellschaft gebildet wird. Das wird auch nicht einfach sein, aber das wurde sogar von der internationalen Gemeinschaft vorgeschlagen."
Währenddessen werden die Rufe lauter, die Menschenrechtsverletzungen zu ahnden und auch die Regierung in die Verantwortung zu nehmen. Ein kürzlich veröffentlichter Report, den die Harvard-Universität mit der haitianischen Beobachtungsstelle für Verbrechen gegen die Menschlichkeit herausgebracht hat, dokumentiert drei Massaker, die zwischen 2018 und 2020 mit der Unterstützung der haitianischen Regierung begangen wurden, erklärt am Telefon der US-amerikanische Menschenrechtsanwalt Brian Concannon, der an dem Bericht mitgearbeitet hat.(*)
"Es gibt Hinweise, dass die Polizei und hochrangige Regierungsbeamte an den Massakern aktiv beteiligt waren – insbesondere beim ersten Angriff auf das Armenviertel La Saline. Die Polizei hat nicht interveniert. Die Regierung von Moïse ist nach internationalem Recht verpflichtet, Ermittlungen einzuleiten, und das ist nie geschehen. Es waren Mitglieder seiner Regierung, die involviert waren, und er hat nichts unternommen, um sie zu stoppen."

Begeht die Regierung Verbrechen gegen die Menschlichkeit?

Damit begehe die haitianische Regierung Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Eine zentrale Rolle spiele bei allen drei Massakern Jimmy Cherizier. Unter seiner Führung seien Gangs von der Regierung beauftragt worden, die Kontrolle über Teile der Stadt zu übernehmen, so der Menschenrechtsanwalt.
"Es sieht zunächst nach bloßer Gang-Gewalt aus, aber dahinter stehen klare politische Interessen. Es geht um die Kontrolle von Stadtteilen, die von Oppositionellen dominiert werden. Die stärksten Hinweise gibt es im Fall des Massakers von La Saline. Laut Zeugenaussagen wurden Gangs die Unterstützung für Schulen und diverse lokale Projekte versprochen, wenn sie Anti-Regierungsdemonstrationen verhindern würden."
Bei dem Massaker von La Saline sind 71 Menschen ums Leben gekommen, darunter auch Kinder. Und Jimmy Cherizier läuft trotz Haftbefehls weiterhin frei in Port-au-Prince herum. Bei Auseinandersetzungen zwischen Gangs um die Vormachtstellung in diversen Stadtteilen Mitte Mai, hat er zwei Schüsse abbekommen. In seinem Facebook-Account postet er später: "Ich bin nicht tot" – und droht mit einem Bürgerkrieg.
*Redaktioneller Hinweis: Ein Name wurde korrigiert.
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