"Mitten im Meer ist man der Schöpfung nah"
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Die Hallig Hooge ist mit 80 Seelen die wahrscheinlich kleinste Kirchengemeinde in Deutschland. Dort Pfarrerin zu sein, klingt idyllisch. Doch es war gar nicht so leicht, jemanden für die Kirche der kleinen Nordseeinsel zu finden.
Vom nordfriesischen Schüttsiel geht es mit der Fähre hinüber zur Hallig Hooge. Vom Anleger aus sieht man schon in der Ferne die Kirchwarft mit dem riesigen Pfarrhaus, der reetgedeckten Kirche, dem kleinen Glockenturm sowie dem Friedhof.
Aus der Stadt raus auf die Insel
Vor knapp einem halben Jahr ist Hildegard Rugenstein in das frisch renovierte Pastorat eingezogen. "Ich liebe meinen Beruf und fand die Stelle genau passend", erzählt sie: "75 Prozent, eine Predigtstelle - alles mit dem Fahrrad möglich und dann die fantastische Natur."
Zuvor war Rugenstein 36 Jahre lang Pfarrerin in Potsdam. "Ich brauche den kulturellen Trubel aus Potsdam nicht, auch nicht den gesellschaftlichen", sagt sie. Es sei schon gut, dass sie zusammen mit ihrem pensionierten Ehemann auf die Hallig gezogen sei. "Mit Ehepartner ist das günstig, weil - das muss ich auch sagen: Alleine möchte ich das hier jungen Kolleg*innen nicht zumuten."
Das Pastorat liegt direkt neben der Kirche und überragt das Gotteshaus. Erbaut wurde das Pfarrhaus Anfang des 20. Jahrhunderts, erläutert Gertrude von Holdt-Schermuly, die einige Jahre die Vakanzvertretung übernommen hatte und noch heute auf Hooge wohnt:
"Kaiserin Auguste Viktoria ist hier gewesen und hat den Hoogern einen finanziellen Zuschuss zu einem neuen Pastorat gewährt - mit der Auflage, das Haus bitte so zu bauen, wie sie das aus ihrer Heimat kennt. Und dann haben die Hooger angefangen und haben dieses riesige Ding gebaut, und das Geld reichte hinten und vorne nicht, und sie saßen lange auf den Schulden, aber sie haben es gebaut."
Einsamkeit, die manchen zu schaffen macht
Das Pfarrhaus hatte einst rund 300 Quadratmeter Wohnfläche. Nun wurde es umgebaut: Hildegard Rugenstein wohnt mit ihrem Mann im ersten Stock. Mit einem fantastischen Blick über Hooge und über die Nordsee. Die Katholiken hätten ja lange die Vorstellung einer "Vorhölle" gehabt, sagt die Pastorin mit einem Schmunzeln. Für sie sei das hier so etwas wie der "Vorhimmel".
Für die einen ist es der "Vorhimmel", für andere eher eine kleine einsame Insel. "Es ist auch die Hallig-Lage, das ist einzigartig, und nicht jeder ist dafür gemacht", sagt Karin Tiemann. Sie ist die Vorsitzende des Gemeindekirchenrates. Es gab in den vergangenen Jahren einige Interessenten für die Pfarrstelle, die aber dann wieder einen Rückzieher gemacht haben.
"Die Kirche ist für das Leben auf der Hallig unwahrscheinlich wichtig", erklärt Tiemann, "weil sie einen erdet. Wir sind hier draußen, weit weg vom Festland mitten im Meer. Man merkt, dass man hier der Schöpfung sehr nahe ist."
Lockdown im Ferienparadies
Hier habe es nie eine pietistisch-fromme Erweckungsbewegung gegeben, erklärt Hildegard Rugenstein, "aber trotzdem ein ganz tiefes Urvertrauen, einen ganz schnellen Weg zu Fragen von Gott und der Welt, viel direkter und unkomplizierter als auf dem Festland und zwar in dem Bewusstsein, dass hier eigentlich alle Familien, die hier seit Jahrhunderten leben und Familiengeschichten haben, dass die alle irgendwie Todesopfer im Meer haben. Das ist einfach sehr präsent."
Während der Coronazeit gab es auch auf der Hallig einen Lockdown. Die Pandemie habe die rund 100 Hooger hart getroffen, sagt Karin Tiemann, "weil wir halt eigentlich schon eine sehr touristische Hallig sind und sehr vom Tourismus abhängig sind. Es gibt zwar auch einige Berufe, die unabhängig vom Tourismus laufen, Küstenschutz und auch in der Verwaltung, aber es hat viele sehr getroffen, dass sie wirklich Einbußen hatten. Ein halbes Jahr Lockdown, das war schon sehr schwierig."
Die Gemeinde versunken, der Taufstein gerettet
Hildegard Rugenstein schließt die Kirchentür auf und tritt in den kühlen Innenraum. Die Halligkirche entstand nach der großen Sturmflut 1634. Damals kamen zwei Drittel der Bewohner der Halligen ums Leben. Ein Großteil der Baumaterialen und der Inneneinrichtung der Kirche auf Hooge stammt von der damaligen Insel Alt-Nordstrand.
Die dortige Gemeinde Osterwohld war der Flut zum Opfer gefallen, erklärt Rugenstein, "sodass wir hier das Phänomen haben, dass wir hier einen Taufstein von 1624 haben, der von einer anderen Kirche kommt, die es nicht mehr gibt und der älter ist als die Kirche."
Das Wunder der leeren Kirche
Bei Sturmfluten könne es bis heute schon mal passieren, dass auch die Kirche unter Wasser steht. "Deshalb gibt es hier, das ist wahrscheinlich einzigartig, einen Fußboden in der Kirche, der aus Muscheln besteht, wirklich wie am Strand lauter Muscheln, damit das Wasser schnell wieder abfließen kann, wenn mal eine Flut wirklich wieder die Kirche erreicht."
Gertrude von Holdt-Schermuly erzählt dazu eine schöne Geschichte: "Wenn das Wasser in der Kirche stand, dann sickerte das von allein wieder ab. Und das wusste ein junger Pastor, der nur kurz hier war, noch nicht. Er ist also in seine Kirche gekommen, und die stand unter Wasser, und er war fassungslos und hat angefangen, mit dem Eimer die Kirche leerzupützen. Und dann war er so kaputt, dann ist er ins Pastorat gegangen, und als er zurückkam, da war die Kirche leer. Und das ging als Wunder von Hooge in die Geschichte ein. Und sie haben ihn ganz lang damit aufgezogen."
Auf der Hallig Hooge mit den rund 80 Kirchenmitgliedern ist es hilfreich, wenn die Pastorin – wie Hildegard Rugenstein – auch Orgel spielen kann. Draußen, direkt vor der Kirchentür, liegt der Friedhof.
Friedhof für Einheimische wie Namenlose
"Den Friedhof gab es schon, bevor es die Kirche überhaupt gab", erzählt Rugenstein. "Es mussten ja immer Menschen beerdigt werden. Und der Friedhof ist auch heute neben der Kirche ein wichtiger Kommunikationsort, also die Halligfamilien kommen hier ganz regelmäßig, pflegen ihre Gräber, kommen auch mit Kind und Kegel her, mit Kindern, mit Enkelkindern. Wenn Besuch kommt, geht man zum Grab und erzählt sich Familiengeschichten."
Ins Auge fällt ein Kreuz mit der Aufschrift "Heimat für Heimatlose". "Es gab immer mal wieder Tote, die angeschwemmt wurden", erklärt Hildegard Rugenstein, "und die sollten dann würdig beerdigt werden und haben dann hier dieses Kreuz bekommen."
Die Warften - aufgeschüttete Erdhügel - liegen einige Meter über dem Meeresspiegel. Von der Kirchwarft blickt man auf die Hans-Warft, die mit Erdarbeiten gerade gegen die nächsten Sturmfluten geschützt wird.
Kaktusmoos dank Klimawandel
"Dadurch, dass der Klimawandel immer mehr greift, die Fluten immer höher, immer heftiger werden, muss halt was getan werden, damit die Warften und die Häuser und die Menschen geschützt sind", erläutert Kirchenvorsteherin Karin Tiemann. Der Klimawandel sei auf vielen Ebenen zu spüren.
"Es gibt ja sehr viele invasive Arten, und man kann das auch teilweise auf den Reetdächern hier beobachten", sagt Tiemann. "Ich habe gerade jetzt im Frühjahr auf dem Reetdach wieder Moos entfernt, und das ist ein Kaktus-Moos, was sich hier auf den Reetdächern ansiedelt. Das ist auch eine Folge des Klimawandels."
Vielleicht werden die Halligen durch den Anstieg des Meeresspiegels in einigen Jahrzehnten unter Wasser stehen – doch noch kann Pastorin Hildegard Rubenstein ihren "Vorhimmel" auf Hooge genießen. "Wenn ich raustrete und mit dem Fahrrad losfahren kann", sagt sie, "da ist dann jeder Tag doch wie Urlaub."