Jüdisches Leben in Hamburg
Was hat es mit dem sonderbaren Fundstück, einer Klarinette, auf sich? (Symbolbild) © Imago / Westend61
Eine Klarinette unter den Dielen
09:24 Minuten
Plötzlich ist da eine Klarinette unter den Dielen. Woher sie stammt, weiß niemand. Es ist eines der Geheimnisse von Hamburgs erstem Genossenschaftshaus. Einem Ort, der viel über jüdisches Leben in der Hansestadt erzählt.
Rothenbaumchaussee 26, ein dunkelroter Klinkerbau. Er fällt auf, hier in diesem noblen Hamburger Stadtteil unweit der Alster. Als die Architekten Hans und Oskar Gerson 1922 die Baupläne für das Wohnhaus veröffentlichen, gehen die Anwohner auf die Barrikaden, erzählt Michael Batz.
"Ja, die Proteste also gerade der Bürgervereine hier in Harvestehude Rotherbaum richteten sich schlicht gegen das Aussehen. Das passte einfach nicht, so ein dunkler Ziegelklinkerbau hier in dieser Zuckerbäcker-Landschaft, kein weiteres Tortenstück hier. Also hell und eher jugendstilig und klassisch, sondern das war wirklich sachlich, robust, rau, komfortabel innen, aber nach außen wirklich sehr abweisend. Und das wurde dann schon ziemlich angefeindet."
Der große Mann mit dunkler Brille steht vor dem Haus. Er trägt ein schwarzes Hemd, schwarze Hose, schwarze Schuhe. Es ist heiß heute, der heißeste Tag des Jahres bislang in Hamburg. Michael Batz hat ein 560 Seiten starkes Buch über dieses Haus geschrieben. „Das Haus des Paul Levy“, heißt es. Im hohen Eingangsbereich ist es angenehm kühl: die Wände schmucklos grau, der Fußboden schwarz-weiß, ein moderner Aufzug aus Edelstahl.
„Das war ja auch kennzeichnend für dieses Gebäude, dass es nach außen eben so brutal abweisend wirkt und so ganz untypisch in dieser quartierlichen Nachbarschaft aber innen hochmodern war. Zentralheizung hat es gegeben, eben diesen Aufzug und eine wirkliche Großzügigkeit im Zuschnitt der Wohnungen mit insgesamt 240 Quadratmetern. Also das war schon üppig, wenn man so will.“
Eine Premiere für Hamburg
Initiator des in den 1920er-Jahren hochmodernen Wohnprojekts ist der Privatbankier Paul Levy. Die Interessentinnen und Interessenten, mehrheitlich jüdisch, liberal und über ausreichende Mittel verfügend, kennen sich. Sie gründen eine Kapitalgesellschaft, zeichnen Anteile und erhalten ein Wohnrecht. Unter anderem ziehen ein: der Konsul von Bolivien, Harry Meyer, die Verleger Witwe Marie-Angele Campe, der Rechtsanwalt Dr. Rudolf Magnus und seine Frau, die Ärztin Dr. Lilly Magnus und natürlich der Privatbankier Paul Levy selbst. Es ist das erste Hamburger Genossenschaftsprojekt unter einer der besten Adressen der Stadt.
Im ersten Stock wohnt heute Hausmeister Sven Herrmann mit seiner Frau Daniela, einer Spanischlehrerin. Ihre Wohnung misst 61 Quadratmeter.
„Wir wohnen seit zwei Jahren hier, und wir haben das Haus gegoogelt, und wir finden das toll, in so einem geschichtsträchtigen Haus zu wohnen. Sie können gerne reinkommen! Daniela, Daniela, Daniela, Daniela! Wir haben Besuch - kommen Sie!“
„Wir sind ein bisschen im Umzug…“
„Wir sind ein bisschen im Umzug…“
Vergangene Geschichten zum Leben erweckt
Für sein umfassendes Buch durchforstet Batz sechs Jahre lang historische Adressregister, recherchiert im Staatsarchiv, sucht und fragt und reist von Israel bis Buenos Aires. Am Ende hat er die Geschichte jedes einzelnen Bewohners rekonstruiert. Selbstverständlich weiß er auch genau, wer 1922 in der Hausmeister-Wohnung gelebt hat.
„Das war Liebmann. Dr. Fritz Liebmann, einer der Prokuristen der Warburg Bank. Und Liebmann war im ersten Stock rechts, also in der Beletage sozusagen. Er war ein hochdekorierter Jurist und er hat bis 1938 hier mit seiner Familie gelebt und ist dann nach New York emigriert.“
„Können Sie mir das Buch signieren?“
„Ja sicher, gerne!“
„Ja sicher, gerne!“
Batz signiert und erzählt aus den Anfangsjahren des Hauses, den 1920er-Jahren.
Von Kohlen und Klarinetten
„Der Wohnungsmarkt war völlig zusammengebrochen. Es gab keine Kohle, die mussten abgeliefert werden im Zuge der Reparationen nach dem Ersten Weltkrieg an Frankreich. Ohne Kohlen konnten die Ziegeleien keine Ziegel brennen. Ohne Ziegel konnte man keine Häuser bauen. Was haben die Gersons, die Architekten damals gemacht? Die waren sehr, sehr klug. Die haben verschiedene Personen in Hamburg zusammengeholt, die alle irgendwie Devisen, die Valuta hatten, und damit haben sie Kohlen gekauft im Ausland. Diese Kohlen haben sie importiert, haben Ziegeleien damit beliefert. Die Ziegeleien haben Ziegel hergestellt und sie konnten bauen. Auf diese Weise sind auch die Leute zusammengekommen, die hier gewohnt haben.“
Ganz oben unterm Dach der Rothenbaumchaussee 26 befindet sich seinerzeit ein Künstleratelier. Bei Umbauarbeiten in den 1980er-Jahren finden Handwerker hier eine Klarinette unter dem Dielenboden. Mit dieser Klarinette beginnt die langjährige Recherche des Autors.
Die wilden 20er: Fotos von halb nackten Feiernden
Im Laufe der Zeit kommen so viele Geschichten ans Tageslicht. Zum Beispiel die des Malers Willy Davidson.
„Davidsson war Mitglied der Hamburger Sezession und war einer der bekanntesten Maler Hamburgs seiner Zeit und wurde gehandelt in der Liga von Schmidt-Rottluff, war zugleich auch künstlerischer Berater der Oper, war Bühnenbildner, sehr intellektuell auch und Teil einer künstlerischen Avantgarde, die sich hier auch getroffen hat. Und die haben hier natürlich nach den Künstlerfesten noch so ihre Privatpartys gefeiert.“
Auf einem Schwarz-Weiß-Foto aus der damaligen Zeit sieht man fröhliche junge Menschen in knappen Fantasiekostümen, einige halbnackt. Klaus und Erika Mann und Gustaf Gründgens sind auch dabei. Es muss wild zugegangen sein, dort oben unterm Dach.
Davidson stirbt noch vor Hitlers Machtübernahme 1933 an einem Herzanfall. Nach ihm zieht die Operndiva Gusta Hammer in die Atelier-Wohnung. Sie bleibt lange.
Im dritten Stock wohnt heute das Ehepaar Göke. Göke ist ärztlicher Direktor und Vorstandsvorsitzender des UKE, des renommierten Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf. Als er die Tür öffnet, trägt er ein Jim-Morrisson-T-Shirt.
„Göke.“
„Batz!“
„Wir haben uns bei der Lesung kennengelernt.“
„Ja!“
„Ja!“
„Batz!“
„Wir haben uns bei der Lesung kennengelernt.“
„Ja!“
„Ja!“
Frau Göke zeigt die Zimmer.
"Das war früher das Mädchenzimmer, das ist jetzt das Bad. Also hier hat das Mädchen wohl gewohnt. Und das hatte eben Wasseranschluss. Und gleich nebenan war dann eben die Küche.“
Ohne Banken wäre nichts gegangen
„… war ein Prokurist von der Warburg-Bank, der hier gewohnt hat?“
„In unserer Wohnung?“
„Ja.“
„Rudolf Brinkmann. Ja, ja, ja, ja, ja, ja und das war, das war sozusagen dann die Dreh- und Angel-Figur auch in der weiteren Historie dieses Hauses, weile er ja die Bank dann übernommen hat, Brinkmann, Wirtz und Co. Und hat ja dann dafür gesorgt, dass die Anteile der Wohnhaus Rothenbaum GmbH auch letztlich bei Brinkmann, Wirtz und Co. zusammengefasst worden sind, so dass ... also 1967 gehörte das gesamte Haus der Bank.“
„In unserer Wohnung?“
„Ja.“
„Rudolf Brinkmann. Ja, ja, ja, ja, ja, ja und das war, das war sozusagen dann die Dreh- und Angel-Figur auch in der weiteren Historie dieses Hauses, weile er ja die Bank dann übernommen hat, Brinkmann, Wirtz und Co. Und hat ja dann dafür gesorgt, dass die Anteile der Wohnhaus Rothenbaum GmbH auch letztlich bei Brinkmann, Wirtz und Co. zusammengefasst worden sind, so dass ... also 1967 gehörte das gesamte Haus der Bank.“
Erinnerung an die Vertriebenen
Die jüdischen Bewohner und Bewohnerinnen ziehen nach 1933 aus. Fast alle schaffen es jedoch rechtzeitig zu emigrieren und der drohenden Vernichtung zu entgehen.
„Entweder haben sie Briefe hinterlassen oder Erinnerungen von Kindern und Enkeln. Und da bin ich ja gerade dabei, und das ist ja gerade unglaublich schön, diese Resonanz zu haben und auch die Freude und die Bereitschaft wahrzunehmen, sich daran zu beteiligen und sich zu öffnen.“
Batz veranstaltet auch musikalische Lesungen, bei denen die historische Klarinette gespielt wird. Eine Schauspielerin liest dazu Passagen aus dem Buch.
„Die Klarinette vom Dachboden des Hauses Nummer 26, deren Geschichte bis heute unaufgedeckt ist, erklingt wieder. Das Rätsel, das sie aufgab, hatte zur Folge, dass viele andere Geschichten wiederkehren konnten. Es gehört zu ihrem Geheimnis, dass sie bereit ist, alles zu sagen, ohne es zu tun.“
Der thronende Löwe über der Jahrhunderttür
Wer das Haus Rothenbaumchaussee 26 betritt und es wieder verlässt, geht durch ein hölzernes Portal hindurch, auf dem ein Löwe thront, der Löwe von Juda. Ein nicht ganz zufälliges Zeichen der Architekten Gerson.
„Wenn Sie die Tür genau betrachten, dann werden Sie dort zwölf Holzstäbe lesen. Also einen Verweis auf die zwölf Stämme des Hauses Israel unter dem Löwen von Juda, der wiederum unter der Krone der Thora sich befindet. Und das ist dann nicht nur reine Dekoration, sondern das ist ein Statement, und ich bin mir ziemlich sicher, dass die Gersons das bewusst gemacht haben. Und sie ist immer noch im Original, obwohl hier so viele Umzüge stattgefunden haben. Das hat die Tür alles mitgemacht. Also das ist eine Jahrhunderttür, auch sie. Ein sehr bewegtes Jahrhundert, rein und rausgegangen und alles unter dem Löwen.“