Schlafen auf der Bühne
Heimweh schlägt aufs Gemüt - oft bis zur Persönlichkeitsveränderung: Das ist ein Thema für den Schweizer Regisseur Christoph Marthaler, der unter dem Titel "Heimweh und Verbrechen" ein neues Werk am Hamburger Schauspielhaus vorgestellt hat.
Mehr "Déja-vu" wird ja kaum möglich sein in der ersten Saison der neuen Hamburger Schauspielhaus-Chefin Karin Beier - Christoph Marthaler ist wieder da, wieder in Hamburg. Dort (und an der Berliner Volksbühne) begann vor gut 20 Jahren die erstaunliche Karriere dieses Musikers, der damals eine Art neuen "Klang" im Theater kreierte: fast immer getragen von den volksmusikalischen Harmonien aus Marthalers Schweizer Heimat. In ihnen drückt sich oft auch die "maladie suisse" aus, die "Schweizer Krankheit", wie das Heimweh genannt wird, die Sehnsucht nach dem verlorenen Zuhause - der Psychiater und Philosoph Karl Jaspers stellte für die eigene Doktorarbeit 1909 einen Zusammenhang her zwischen dem Heimweh an sich und den Verbrechen heimwehkranker Menschen. "Heimweh und Verbrechen" heißt nun Marthalers neues Hamburger Projekt - aber natürlich ist kein wissenschaftlicher Vortrag daraus geworden.
Leiden am Heimatverlust
Die Promotion des Philosophen ist ein Baustein des Projektes; einige der Fall- und Täter-, besser: Täterinnen-Geschichten aus lang vergangener Zeit werden zitiert und rezitiert - und zwar so fremd, so verfremdet wie möglich - im Solo-Dialog etwa mit sich selber, als Richter und Angeklagte in einem. Aber derart konkret wird Marthalers Arbeit selten. Menschen erzählen extrem fragmentarisch vom Sehnsuchtsort, den sie verloren haben - und wie immer bei Marthaler singen sie uns auch ihr Leid; selbst wenn die Heimweh-Metapher nur noch vage in der Ferne glimmt. Und einmal nur kommt wirklich Gänsehaut auf - wenn das Leiden am Heimatverlust stark nach Honecker in Chile klingt. Was sicher nicht so gemeint ist - dem alten Herrscher, der da spricht, ist ja zu kalt im letzten Exil; und das ist in Chile eher nicht die Regel. Aber ein bisschen steckt auch von einem wie dem deutschen Erich in diesem Ex-Besitzer der Macht, der sich (wie er selber meint) nie etwas zuschulden kommen ließ und halt nur jeden Protest mit dem Tode bestrafte; nach Recht und Gesetz im eigenen, nunmehr verlorenen Land.Dass sich nun aber niemand irreführen lässt - "Heimweh und Verbrechen" dokumentiert nichts und niemanden. Der Abend setzt vielmehr die Reihe der klassischen Marthalereien fort - und zwar erstaunlich nah an den Verstörungen früherer Jahre. Denn nur die verklärende Sicht von heute lässt ja die Entwicklung dieses Theatermachers als dauernde Erfolgsgeschichte erscheinen - Marthalers Fantasien irrlichterten das Hamburger Publikum auch damals schon ratlos und schwindlig; und das Foyer-Diktum "So ein Quark!" nach cem neuen Rätsel- und Verwirrspiel hat es genau so vor 20 Jahren gegeben. "Heimweh und Verbrechen" ist schwierig, schwer zugänglich, anstrengend und ermüdend, und es wird auch (noch so eine Legende von damals!) geschlafen auf der Bühne; allerdings nur ganz kurz und unter dem Teppich."Mein Feld ist die Weit!"Es gibt überhaupt einige sehr markante Zitate, die als solche überaus kenntlich sind und programmatisch sein sollen: etwa das (gefühlt) minutenlange Ensemble-Schweigen zu Beginn. Und natürlich als ganzes Anna Viebrocks Bühne: eine Art Sanatoriums-Saal, aber vielleicht auch die Offiziersmesse eines Schiffes, mit Bekenntnis-Kanzel links und Mini-Hörsaal rechts; einem ärztlichen Behandlungszimmer von anno dazumal links hinten und einigen Schriften an den Wänden: "Wir schlafen nicht!" oder "Mein Feld ist die Weit!", Motto und Mantra der Welteroberer von der Hamburger Schifffahrtslinie HAPAG.In dieser Welt driften die Spielerinnen und Spieler, Sängerinnen und Sänger hin und her, sprechen mal chorisch, mal allein in Schweizer Dialekten, auf englisch und französisch; und ein kryptisch-komischer Haus- oder Bord-Arzt, der gleich zu Beginn ein selbstgemixtes Anti-Heimweh-Vademecum empfiehlt für den Krankheitsfall und im weiteren im wesentlichen dirigiert, stiftet so etwas wie Ordnung. Aber all das wirkt absichtsvoll wie improvisiert, soll bloß nirgends irgendwie Halt bieten in einer "richtigen" Geschichte. Marthaler ist wieder da.Der Abschied von Hamburg und Berlin führte ihn vor 15 Jahren in eine glücklose Intendanz am Züricher Schauspielhaus und dann die Marthaler-Methode in die großen Opernhäuser; erst in jüngerer Zeit stillte der Regisseur das eigene Sehnsucht nach "offenen" Spielen und zauberte wieder rätselhafte Miniaturen auf die Bühnen der Heimatstadt Basel. Kann sein, dass er selber auch ein wenig Heimweh verspürt haben mag nach dem Hamburg von damals - mit "Heimweh und Verbrechen" findet er sich selber wieder. Aber die Geschichte wird nicht von vorn beginnen.