Spurensuche in der Kampfzone
Kurz vor Weihnachten lieferten sich in Hamburg Autonome und Polizei heftige Straßenschlachten, am Ende erklärte die Polizei drei Stadtteile zeitweise zu "Gefahrengebieten". Wie konnte es soweit kommen? Eine Analyse aus der Kampfzone.
Die Hamburger Reeperbahn, 20. Dezember 2013, am späten Abend. "Auf dem Weg zum Gefahrengebiet Hamburg". Erster Akt: Zwanzig, dreißig Menschen rennen über die Straße im Rotlichtviertel, vor die Davidwache, das Polizeikommissariat 15. Fenster klirren, Steine und Straßenschilder fliegen gegen das Gebäude. Ein Internetvideo zeigt den Krawall in verwackelten Bildern. Zertrümmerte Einsatzwagen. Sechs Fahrzeuge werden demoliert.
Einen Tag später. Zweiter Akt: 10.000 Demonstranten – mehrere Tausend sind aus der aus der ganzen Republik angereist - stehen auf dem Schulterblatt. Auf der Straße, an der die "Rote Flora" mit ihrer schmutziggelben, Graffiti-besprühten Fassade liegt. Besetzt seit 1990, als Reaktion auf die Pläne, an der Stelle des alten Konzerthauses ein neues, riesiges Musicaltheater zu bauen. Die Demo richtet sich gegen die Hamburger Flüchtlingspolitik, gegen den Umgang des Senats mit den "Lampedusa"-Flüchtlingen. Gegen den Abriss der so genannten "Esso"-Häuser auf der Reeperbahn durch einen bayerischen Investor, der sich erst nach heftigen Protesten um die einstigen Bewohner der Immobilie gekümmert hat.
Und natürlich ging es um den Erhalt der "Rote Flora" auf dem Schulterblatt. Seit 24 Jahren Zentrum der linksautonomen Szene. Um 15.09 Uhr nimmt die Eskalation ihren Lauf: Die Spitze der Demonstration, der Schwarze Block setzt sich in Bewegung. Fünf Minuten zu früh, findet die Polizei und stoppt den Zug nach 50 Metern. Wer dann angefangen hat, darüber streiten sich bis heute Polizeisprecher Mirko Streiber und der linke Szene-Anwalt Andreas Beuth:
Streiber: "In dem Moment sind wir wirklich massiv beworfen worden. Sowas habe ich schon lange nicht mehr erlebt, wie dort auf die Kollegen geworfen worden ist. Zumal die zu diesem Zeitpunkt fast noch nicht mal ihre Helme aufgehabt haben, sondern die erst angelegt haben. Das zeigt, dass wir nie die Intention hatten, diesen Aufzug nicht laufen zu lassen. Das ist auch so eine Mär, die verbreitet wird."
Beuth: "Die Polizei wollte ganz offensichtlich diese Demonstration gar nicht losgehen lassen! Sie ging an die Demonstration ran. Die beiden Ketten – erste Demonstration-Kette und erste Polizeikette – standen sich gegenüber. Und dann wurde – bevor irgendwelche Gegenstände geflogen sind - seitens der Polizei auf Demonstranten eingeschlagen und eingetreten. Und dann flog der erste und zunächst nur ein einziger Böller. Dann wurden die Wasserwerfer nach vorne gezogen und haben sofort auf die Demonstrationsspitze raufgehalten und Wasser 'geschossen', muss man sagen."
Pflastersteine prasseln auf Polizisten
Was dann passierte, belegen etliche Filmaufnehmen im Internet: Pflastersteine prasseln auf Polizisten in Kampfmontur, Böller fliegen, zwei Wasserwerfer halten die vermummten Demonstranten auf Distanz. Kleine Stoßtrupps, die Beweis- und Festnahmeeinheiten der Polizei preschen vor, schlagen zu, räumen übereinandergeworfene Bänke, herausgerissene Verkehrsschilder aus dem Weg, treten im Steinhagel den Rückzug an. Bis in die späten Abendstunden liefern sich Polizei und ein Teil der Demonstranten heftige Kämpfe. Die friedliche Mehrheit, der so genannte "Bunte Block" oder das Bündnis "Recht auf Stadt", versuchen, nahe der Reeperbahn und im Schanzenviertel gewaltfrei für ihre Anliegen zu demonstrieren. Aber auch diese Versammlungen wurden, so die Abgeordnete der Linkspartei in der Hamburgischen Bürgerschaft, Christiane Schneider, gewaltsam aufgelöst:
Schneider: "Es gibt ein Video von einer weiteren Kundgebung spätabends, in der Taubenstraße, vom 'Bunten Block', 'Recht auf Stadt', wo man sehen kann, dass die Polizei – ohne dass da eine Aggressivität war – zu dem Lautsprecherwagen vorgedrungen ist und dort Pfefferspray versprüht hat. Und ich finde, das Pfefferspray sitzt bei der Polizei sehr, sehr locker. Und damit greifen sie auch gezielt Menschen an, wo man nicht sagen kann, da ist Gewalt von ausgegangen. Und mit dieser Kritik muss sich auch die Polizei auseinandersetzen."
Trotz ihrer Kritik am massiven Pfeffersprayeinsatz, an der vermeintlichen Eskalationslogik der Polizei, prangert die Linken-Abgeordnete Christiane Schneider aber auch die Aktionen der gewalttätigen Demonstranten an, ihre Stein- und Flaschenwürfe, die Brutalität gegenüber den Beamten. Die Bilanz der Krawalle am 21. Dezember ist bitter: Nach Angaben von Polizeisprecher Mirko Streiber wurden 165 Beamte verletzt, die Gegenseite berichtet von 460 verletzten Demonstranten.
Nach den Ausschreitungen waren allein die Gewaltexzesse Thema in den Medien. Die politischen Forderungen der Demonstration interessierten niemanden mehr.
Klaus gehört zur Pressegruppe des autonomen Kulturzentrums Rote Flora. Er schließt die schwere Stahltür zum Gebäude auf, führt hinein in den maroden Bau, über zerschlissene breite Holzdielen in den großen Saal:
Klaus: "Wir sitzen gerade im großen Veranstaltungsraum. Was wir hier sehen, ist eine wirklich über und über von Graffiti überzogene Wand. Es ist ein Mehrzweckraum. Sowohl große politische Versammlungen, aber auch discoartige Veranstaltungen oder allgemein alle größeren Konzerte finden in diesem Raum statt."
Der Investor will die Flora-Nutzer vor die Tür setzen
Und das, so Klaus, wird auch so bleiben. Obwohl der rechtmäßige Eigentümer, der selbsternannte Kulturinvestor Klausmartin Kretschmer das Gebäude abreißen möchte. Vor zwölf Jahren hatte er es der Stadt abgekauft, für gerade mal 190.000 Euro wechselte die Immobilie Besitzer. Der Senat wollte die Flora und ihre Besetzer loswerden, zumindest nicht mehr als Eigentümerin in der Kritik stehen, wenn pünktlich zum 1. Mai genau dort die Krawalle beginnen. Der Investor Kretschmer gab sich als Freund der Flora, wollte einen Dialog mit Besetzern - und bekam von denen postwendend Hausverbot.
Heute will er die Flora-Nutzer vor die Tür setzen, alles abreißen, bis auf die Fassade. Entstehen soll ein sechsstöckiger Bau, ein neues Stadtteilzentrum. Oder aber, so Kretschmers Berater, der Immobilienhändler Gert Baer, ein hochpreisiges Bekleidungsgeschäft. Mit einer Tiefgarage im kleinen Park dahinter. Ein amerikanischer Investor stünde schon bereit.
Nur die jetzigen Nutzerinnen und Nutzer, die Autonomen wollen dabei nicht mitspielen. Immerhin gesteht der einstige Kaufvertrag ihnen ausdrücklich ein Nutzungsrecht zu:
Klaus: "Grundsätzlich haben wir immer gesagt, dass uns Herr Kretschmer egal ist. Und wir haben damit ja auch Recht gehabt. Denn wäre man auf seine Rolle vor zwölf Jahren, wo er noch der nette Mäzen war und der Kulturinvestor, näher eingegangen, wäre man ja jetzt schön gelackmeiert. Es stellt sich jetzt im Endeffekt heraus: Nun, wo er pleite ist, ist ihm das Hemd näher als die Hose. Und da interessiert ihn sein ganzes schöngeistiges Gerede überhaupt gar nicht mehr. Sondern jetzt versucht er, maximalen Euro aus dem Grundstück zu machen."
… und seinen Berater schickt er mit Ideen vor, die vor allem ein Ziel haben: zu provozieren. Und einen Konflikt anzuheizen, der sich in den letzten zwei Jahren, so sehen es auch Polizei und Politik, merklich entspannt hatte. Gert Baer handelt mit Luxus-Immobilien, in feinen Hamburger Lagen, den USA, auf Sylt, in Frankreich. Seine erste Firma endet 1998 im Konkurs, seine Zulassung als Anwalt kassierte die zuständige Kammer. Vor vier Jahren wird er wegen Veruntreuung zu anderthalb Jahren auf Bewährung verurteilt. Zu Unrecht, versichert Baer.
Alle Hamburger Parteien einig: Die Flora soll bleiben
Stellvertretend für den Rote-Flora-Besetzer Kretschmer forderte er zuletzt: Die Besetzer sollten doch bitte noch vor Weihnachten das Haus besenrein übergeben. Schließlich, so Baer in einem Zeitungsinterview, wolle man das Thema schnell vom Tisch haben und in Ruhe den Ski-Urlaub in den Weihnachtsferien genießen. Dabei weiß auch Baer: Das zuständige Bezirksamt hat gerade erst extra den Bebauungsplan geändert, um die "Flora" zu erhalten, wie sie ist. Und sämtliche Parteien, von SPD bis CDU, sind sich – ein Novum in der Flora-Geschichte - einig: die Heimstatt der Hamburger Autonomen soll es weiter geben.
Ende Dezember spielte dann der letzte und umstrittenste Akt von: Auf dem Weg zum Hamburgs Gefahrengebiet. Die Polizeipressestelle meldet: am 28.12. haben 30 bis 40 teils vermummte Personen zum zweiten Mal das Polizeikommissariat Davidwache angegriffen.
Sprecher Mirko Streiber: "Die Kollegen sind erstmal davon ausgegangen, dass es möglicherweise eine Versammlung ist und wollten das klären. Das war die Situation. Und als sie die Wache dann verlassen haben, sind sie gezielt mit Steinen und Flaschen beworfen worden. Nach jetzigen Erkenntnissen hat es direkt vor der Wache stattgefunden und hat sich dann verlagert in die Hein-Hoyer-Straße. Ob das vorher geplant gewesen ist von dieser Gruppe dunkel gekleideter Personen oder ob sich das ergeben hat, als die Polizisten aus der Wache herausgekommen sind, das kann ich ihnen nicht sagen. Das ist Gegenstand der Ermittlungen."
Drei Beamte werden verletzt. Einer von ihnen schwer, durch einen Steinwurf ins Gesicht. Die Hamburger Zeitungen übernehmen die Polizeiberichte über den Angriff auf die Polizeistation. Tagelang ist die Attacke Thema in den Medien. Der Tenor in "Hamburger Abendblatt" und "Morgenpost": Den Linksautonomen ist alles zuzutrauen. Höchste Zeit, sie zu bremsen. – Am 4. Januar ist es soweit: Zum Schutz der Kommissariate erklärt die Hamburger Polizei weite Teile der Stadt zum Gefahrengebiet. Möglich macht das Paragraf 4 des Hamburger "Gesetzes über die Datenverarbeitung der Polizei". Die Konsequenz beschreibt der Jura-Professor Ulrich Karpen:
Karpen: "Die Vorschrift des Paragrafen 4 ist in der Tat ein schwerer Eingriff in die Persönlichkeitsrechte der Bürger, der Betroffenen, der Anwohner. Denn der Paragraf erlaubt, jede Person anzuhalten. Verdachtsunabhängig. Die Papiere zu kontrollieren, den Wohnort festzustellen und vor allen Dingen in mitgebrachte Gegenstände reinzuschauen. Das heißt, wenn sie einen Rucksack haben oder eine Tasche, kann die Polizei ohne einen Verdacht zu haben, zulangen."
Viele empfinden die Kontrollen im "Gefahrengebiet" als Zumutung
Und genau das tut die Hamburger Polizei nach dem 4. Januar. 140 Beamte in voller Schutzausrüstung kontrollieren Tag für Tag vor allem die Bewohnerinnen und Bewohner, die "links" aussehen. Im Hamburger Schanzenviertel, in Altona und St. Pauli. Gefunden werden nach Angaben der Polizei Schlagwerkzeuge, Vermummungsgegenstände und Böller. Die meisten Kontrollen verlaufen ohne Zwischenfälle, allzu renitente Verdächtige werden zu Boden geworfen und dort durchsucht. Platzverweise und Aufenthaltsverbote werden ausgesprochen. Für viele Menschen in den Gefahrengebiet eine Zumutung:
Passantin I: "Diese Art von Sicherheit und Ordnung möchte ich nicht! Weil ich mich in meiner Freiheit beschränkt fühle. Weil das die Polizei nichts angeht, was ich in meiner Tasche habe!"
Passantin II: "Wir haben jetzt hier einen Zustand, dass man sich fragen muss, wenn man auf die Straße geht: Hat man auch den Ausweis dabei? Wie bin ich angezogen? Ist es zu schwarz? Wenn ich stehenbleibe und mit Leuten rede und die sind auch dunkel angezogen, dann wird man kritisch beäugt. Überhaupt wird man die ganze Zeit kritisch bemustert und beäugt, ob man zu links aussieht. Allein das empfinde ich schon als Diskriminierung."
Und aus Protest gegen die Sonderzonen gibt es täglich neue Demonstrationen. Mit neuen Zusammenstößen, mit weiteren Verletzten und In-Gewahrsamnahmen. Und im Netz taucht ein Pamphlet auf, das das Bild der brutalen Linksautonomen noch verstärkt. Der anonyme Autor rät dazu, Polizisten, er nennt sie in RAF-Manier "die Pigs" gezielt zu verletzen, mit Lanzen und Steinen, Molotowcocktails. Zitat: "Ein Stoßtrupp Pigs, der durch eine Benzinlache rennt und dabei einen Molli fängt wäre aber doch zu schön…". Harter Tobak auch für Hamburgs Verfassungsschutz-Präsident Manfred Murck, der die einschlägigen Kampfansagen der linken Szene gut kennt:
"In dieser Dichte habe ich das so noch nicht gelesen. Und deswegen gehe ich davon aus, dass das auch in weiten Teilen der Linken, der linksautonomen Szene so nicht akzeptiert werden wird. Aber es zeigt, dass es solche Leute gibt. Dass die zunächst einmal verbal auf dicke Hose machen, ist das eine. Dass es welche gibt, die so ähnlich denken, ist das andere."
Tatsächlich wird das menschenverachtende Pamphlet auch in der Roten Flora diskutiert. Mit klarem Ergebnis, so Klaus von der Pressegruppe des autonomen Zentrums:
"Es gibt einen absoluten Konsens, dass man solche zynischen Szenarien, in denen man versucht zu entwickeln, wie man möglichst viele Menschen effektiv verletzten kann, das hat hier keine Lobby in der Roten Flora. Beziehungsweise: Da wird dann auch deutlich was zu gesagt."
Hat sich der Angriff auf die Davidwache wirklich so zugetragen?
Genauso kritisch beurteilen die Aktivisten die Attacke vom 28. Dezember, den Steinwurf ins Gesicht eines Streifenpolizisten in der Nähe der Davidwache. Allerdings kommen Anfang Januar, eine Woche nach Einrichtung des Gefahrengebiets, erste Zweifel auf, ob der "Angriff auf die Davidwache" tatsächlich so stattgefunden hat wie von der Polizei vermeldet. Der Rechtsanwalt Andreas Beuth widerspricht den Schilderungen der Polizei. Dass kurz vor Silvester in der Nähe der Wache Beamte verletzt wurden, bestreitet Beuth nicht. Aber er widerspricht der These vom gezielten Angriff auf die Polizeistation. Zehn Augenzeugen hatten sich bei ihm gemeldet und ihre Sicht auf die Ereignisse geschildert.
Beuth: "Die Polizeibeamten kommen raus. Da ist die Gruppe schon fast auf der anderen Seite der Reeperbahn. Sie kommen raus, weil sie wohl denken, es handelt sich um eine unangemeldete Demonstration. Versuchen auch, die hinteren Personen zu ergreifen, lassen sie dann aber wieder los. Da kommt es zu überhaupt keinen Auseinandersetzungen. Das ist das, was mir mehrere Mandanten, aber auch mehrere Augenzeugen unabhängig voneinander berichtet haben. Die kennen sich gar nicht, die kommen teilweise auch gar nicht aus Hamburg, sondern waren teilweise mit den Eltern im Theater. Sind da vorbeigekommen und haben das gesehen. So dass ich diesen Zeugenaussagen insgesamt hohen Beweiswert beimesse."
Mittlerweile musste auch die Polizeiführung einräumen, dass die Beamten nicht vor, sondern in einiger Entfernung von der Wache verletzt wurden. Von einem direkten Angriff auf die Wache könne deshalb keine Rede sein, so Beuth. Und das sei entscheidend:
"Dieser angeblich organisierte Angriff auf die Davidwache führte unmittelbar zur Einführung des Gefahrengebiets. Und deshalb ist das natürlich von entscheidender Bedeutung!"
Allerdings haben sich Beuths Mandanten und die Augenzeugen bisher nicht zu erkennen gegeben. Aus Angst, dass ihren Aussagen in den laufenden Ermittlungen wegen versuchter Tötung und versuchten Mordes misstraut wird, so der Anwalt. Joachim Lenders von der Deutschen Polizeigewerkschaft holte schon zum Gegenschlag aus: "Das sind infame Unterstellungen!" verkündete der Beamte: "Beuth lügt!". Und er fordert die Anschaffung von Tasern, also: Elektroschockern für die Hamburger Polizei. Hamburgs Innensenator Michael Neumann hält davon nichts. Aber er kritisiert den Anwalt für seine Berichte:
Neumann: "Bei mir schrillen die Alarmglocken, wenn Menschen anonym Beschuldigungen erheben und sich nicht dazu bekennen. Wie soll ein Rechtsstaat mit anonymen Beschuldigungen umgehen, wenn nicht Ross und Reiter genannt werden. Und dass sich ein Organ der Rechtspflege, ein Rechtsanwalt dafür hergibt, das habe ich nicht zu bewerten, es verwundert mich aber. Die Polizei selbst, auch ich, hat ein großes Interesse an Klarheit. Denn sonst bleibt immer dieser Haut-Gout hängen: 'Naja, das war ja irgendwie komisch!' Mein Eindruck ist, man will auch bewusst diesen Eindruck vermitteln. Es ist ein Teil eines politischen Meinungskampfes. Und es geht dabei nicht um die Generierung von Wahrheit!"
Bürgermeister Olaf Scholz wird zum "Roten Sheriff"
Auch unabhängig von den Ereignissen rund um die Davidwache gibt es Kritik am Gefahrengebiet. Die Hamburger Grünen, Linkspartei und FDP fordern die Überprüfung des Gesetzes. Nicht mehr die Polizei allein soll über die Grundrechtseinschränkungen entscheiden, sondern das Stadtparlament oder ein unabhängiger Richter. Und der Juraprofessor Ulrich Karpen, ein ehemaliger Bürgerschaftabgeordneter der CDU, wünscht sich eine verwaltungsgerichtliche Überprüfung der Maßnahme. Das Gesetz an sich hält er für verfassungskonform. Die meisten der 40 bisher verhängten und wieder aufgehobenen Gefahrengebiete beanstandet er nicht. Wohl aber das jüngste und bislang umstrittenste.
Karpen: "Diese Maßnahme ist nach Umfang – ein ganzer Stadtteil wird zur Gefahrenzone erklärt, mit fast hunderttausend Personen – und zeitlicher Erstreckung – unbegrenzt ist die Gefahrenzone eingerichtet – eine neue Qualität, das haben wir in der Bundesrepublik noch nicht erlebt. Es handelt sich wirklich auch um einen neuen Fall. Und deshalb glaube ich auch, dass das Verwaltungsgericht in der Sache entscheiden würde."
Wenn es denn angerufen wird. Bisher hat sich keiner der Betroffenen, niemand, der kontrolliert wurde, zu diesem Schritt entschlossen, um die Verhältnismäßigkeit des jüngsten Gefahrengebiets überprüfen zu lassen. Dafür befassten sich die Kommentarspalten der ganzen Republik mit dem harten Vorgehen der Polizei, der sturen Haltung des SPD-Senats. Bürgermeister Olaf Scholz und sein Innensenator Michael Neumann avancierten zu "Roten Sheriffs", zu "Law and Order"-fixierten, kalten Bürokraten, die für ukrainische Verhältnisse im liberalen Hamburg sorgten.
Eine knappe Woche lang bleibt das bislang größte Gefahrengebiet der Hansestadt bestehen. Dann wird es - trotz fortdauernder Proteste, trotz weiterer verletzter Demonstranten und Polizisten - erst zu Gefahreninseln rings um drei Polizeistationen verkleinert. Und am 13. Januar komplett aufgehoben. Mit dem medialen Druck hatte diese Entscheidung natürlich nichts zu tun, versichert Innensenator Neumann. Vielmehr seien die Kontrollen im Gefahrengebiet ein echter Erfolg gewesen: In den ersten Tagen hätte die Polizei Schlagwerkzeuge, Vermummungsgegenstände und Böller gefunden und später gar nichts mehr. Und die vom Staatsschutz vermuteten Angriffe hat es auch nicht gegeben, so Innensenator Michael Neumann.
Neumann: "Es gibt dieses Gefahrengebietsgesetz seit 2005. Bei der Novellierung im letzten Jahr gab es keinen Antrag der Grünen, keinen Antrag der Linkspartei, das abzuschaffen oder zu verändern, die Rechtsgrundlagen. Es gab während des schwarz-grünen Senates mehr Anwendungen des Gefahrengebiets als in der sozialdemokratischen Regierungszeit. Das alles macht deutlich, dass mein Eindruck vielleicht noch nicht überall akzeptiert wird. Aber mein Eindruck ist, dass dort auch ein sehr hohes Maß an Emotionalität an den Tag gelegt wurde..."
… und nun wünscht er sich, dass endlich Ruhe einkehrt.
Epilog: Zwei Tage nach der vollständigen Aufhebung der Gefahrengebiete geht Hamburgs Finanzsenator Peter Tschentscher in die Offensive. Verkündet die Rückkaufspläne der Stadt für die "Rote Flora". 1,1 Millionen Euro will die Stadt dafür ausgeben:
Tschentscher: "Wir tun dies, weil wir für eine friedliche, gewaltfreie Entwicklung der Stadt nicht wollen, dass ein privater Eigentümer mit seinen Verwertungsinteressen unsere Stadt allein durch Ankündigungen und Pläne – die aus unserer Sicht auch nicht durchsetzbar sind – in Aufruhr versetzt."
Ende gut, alles gut? Klatschen die Flora-Aktivisten dem Senat nun Beifall für die Senatskritik an Kretschmers Verwertungslogik?
Klaus: "Die Rote Flora war ja schon ungefähr zwölf Jahre in städtischem Besitz. Und da kann man nicht behaupten, dass in dieser Phase alles 'Friede, Freude, Eierkuchen' war. Und da wir außerhalb der Eigentumslogik stehen, sondern dazu total konträr sind, ist uns im Endeffekt doch ein bisschen egal, wem es im Endeffekt gehört!"
Und diese etwas trotzige Sichtweise überrascht Hamburgs obersten Verfassungsschützer Manfred Murck überhaupt nicht:
Murck: "Die autonome Szene ist die autonome Szene. Die beschreiben wir seit Jahrzehnten. Dass die sich jetzt komplett integrieren würden in die Stadt und alles gut finden, weil sie jetzt ihr Gebäude auf Dauer haben, das wäre, glaube ich, illusionär. Aber es wird Luft aus diesem Konflikt nehmen. Diese unsäglichen, kleinen Nadelstiche und Störungen des Investors werden nicht mehr sein und insofern wird das im Ergebnis die Chance haben, dass die Konflikte moderiert werden können, vernünftiger, dass sie nicht mehr so ausufern, ausbrechen wie in den letzten Wochen."
Die letzte Großdemo am letzten Samstag verlief schon mal friedlich. In Hamburg geht die verbale, polizeiliche und linksautonome Abrüstung hoffentlich weiter. Und macht Platz für einen liberalen und offenen Streit um das richtige Maß an Staatsgewalt, um Gefahrengebiete und gewaltfreien Protest.