Jetzt kommen die Radfahrer
Hamburg will Fahrradstadt werden, aber der Weg ist für die rot-grüne Koalitionsregierung noch weit. Es allen Verkehrsteilnehmern recht zu machen, ist eine wohl eine unlösbare Aufgabe.
Mit dem Fahrrad über die breiten Radstreifen der Hamburger Feldstraße zu rollen, vorbei am morgendlichen Stau: ein Genuss. Mit dem Fahrrad die Stresemannstraße entlang, in Richtung Sternbrücke: eine Katastrophe. Hier gibt es streckenweise gar keinen Radweg. Den Bürgersteig an der vielbefahrenen Straße teilen sich Radler und Fußgänger. Eine Lösung für die Engstelle an der Sternbrücke zu finden, sei gar nicht so einfach, sagt Lena Voß von der Behörde für Wirtschaft, Verkehr und Innovation:
"Wir haben hier einen sehr komplexen Verkehrsraum, der stark frequentiert wird. Nicht nur von Radfahrern, sondern insbesondere auch vom Kfz-Verkehr. Das sind 72.000 Kfz, die hier jeden Tag langfahren. Und wenn man diesen Straßenraum anfasst, das heißt, hier etwas für den Radverkehr tut, natürlich auch für den Kfz-Verkehr, weil auch dieser Bereich gemacht werden muss, bedeutet das: In irgendeiner Form muss dann gesperrt werden und auch umgeleitet werden."
Es allen rechtzumachen, ist eine nahezu unlösbare Aufgabe, die die Radverkehrskoordinatorin Kirsten Pfaue übernommen hat."Ziel ist, die Sichtbarkeit der Radfahrer deutlich zu erhöhen und die vielen Konflikte zwischen Radfahrern, Fußgängern, aber auch zwischen Autofahrern und Radfahrern aufzulösen", sagt sie.
Der Hamburger Senat will in den nächsten Jahren etwa 100 Millionen Euro dafür aufwenden, aus der Auto- eine Fahrradstadt zu machen. Ein Bruchteil von den Aufwendungen für die KfZ-Infrastruktur. Mit diesem Geld sollen neue "Bike-and-Ride"-Stationen errichtet und jedes Jahr 50 Kilometer Radwege neu gebaut, ausgebaut oder instandgesetzt werden. Bis die Idee der Fahrradstadt, wie sie im rot-grünen Koalitionsvertrag formuliert ist, realisiert wird, wird noch viel Wasser die Elbe hinunterfließen. Dazu Pfaue: "Die Vision geht dann häufiger verloren, um so konkreter es wird, umso mehr man im Detail in der Planung steckt. Dann wird gerungen um jeden Parkplatz, um Bäume, um jeden Zentimeter auf der Straße, natürlich auch über Haushaltsmittel. Dann geht die Diskussion los."
Tödliche Unfälle
Anfang Mai starb eine junge Radfahrerin in Hamburg, als ein LKW rechts abbiegen wollte und der Fahrer die Frau übersah. Seitdem hat die Debatte über die Verkehrspolitik an Fahrt aufgenommen. Neben der Sicherheit für Autofahrer, Radfahrer und Fußgänger geht es in dieser Debatte, die längst nicht nur in Hamburg geführt wird, auch um drei weitere Themen: Wie lassen sich die deutschen Klimaschutzziele erreichen? Was kann gegen Luftverschmutzung und Lärm getan werden? Und wie müssen Mobilitätskonzepte aussehen, die die Bürgerinnen und Bürger nicht einschränken und trotzdem für weniger Staus und zugeparkte Wohnviertel und Innenstädte sorgen?
Als Reaktion auf die tödlichen Verkehrsunfälle beim Rechtsabbiegen hat Hamburg eine Bundesratsinitiative auf den Weg gebracht, die so genannte Abbiegeassistenz-Systeme für Lastwagen vorschreibt. Der Vorschlag findet zwar auch die Zustimmung anderer Bundesländer. Aber am Ende müssten die Warnsysteme auf europäischer Ebene eingeführt werden, sagt Andreas Rieckhof, Staatsrat der Hamburger Behörde für Wirtschaft, Verkehr und Innovation: "Wir haben ja keine nationalen Verkehre, wir haben insbesondere im LKW-Bereich grenzüberschreitende Verkehre. Wer durch den Hafen fährt, sieht eben viele Lastwagen aus Rumänien und Bulgarien. Und es macht ja keinen Sinn, dem deutschen Kutscher das vorzuschreiben und den Rumänen, Polen und Ungarn oder Bulgaren nicht. Das muss schon eine europäische Regelung sein, weil auch Güterverkehr europäisch ist. Und deswegen wird das ein dickes Brett!"
Jüngsten Prognosen zufolge wird vor allem der Lieferverkehr in Hamburg um bis zu 40 Prozent zunehmen. Aufhalten könne man diese Entwicklung nicht, meint Staatsrat Andreas Rieckhof. Der Trend zum Einkauf im Internet sei ungebrochen. Allein dadurch werde der Lieferverkehr wachsen: "Nur, das muss dann eben auch weitgehend emissionsfrei sein", sagt er. "Deswegen haben wir bei den Koalitionsverhandlungen auf Bundesebene uns ja auch sehr erfolgreich dafür eingesetzt, dass den großen Städten in hoffentlich nicht allzu ferner Zeit auch die gesetzliche Möglichkeit eingeräumt wird, in den Zentren, mindestens in den Innenstädten auch emissionsfreie Antriebe dann vorzuschreiben für diese Kurierdienste. Denn ich persönlich glaube nicht, dass das weniger wird. Es wird eher mehr werden."
Gefühlte Unsicherheit
Bis zu emissionsfreien Motoren und Warnsystemen für das Rechtsabbiegen werden noch Jahre vergehen. Einen schnelleren Schutz für Radfahrer könne die Drosselung der Geschwindigkeit bringen, argumentieren der Allgemeine Deutsche Fahrrad-Club/ADFC und der Bund für Umwelt und Naturschutz. Jörg Knieling, Professor an der Hafencity-Universität und Stadtplanungsexperte, ist zudem überzeugt, dass die flächendeckende Einführung von "Tempo 30" mehr Menschen als bisher zum Umstieg auf das Rad und zur Nutzung der Radfahrstreifen auch auf vielbefahrenen Straßen bewegen würde: "Sie fahren in vielen Bereichen auf Straßen, wo neben ihnen Großlastverkehr entlangrauscht - auch meistens dann nicht mit 50, sondern mit 60.
Gefühlt ist es eine große Unsicherheit, wenn solche größeren LKWs neben ihnen vorbeifahren. Tempo 30 würde einfach deutlich das Sicherheitsgefühl erhöhen. Die würden dann vielleicht 40 fahren, aber das wäre dann vielleicht gerade noch akzeptabel. Und zudem könnte man auf ausgewählten Straßen auch Ausnahmen machen. Aber die Denkweise muss andersrum sein: flächendeckend 'Tempo 30' und dann über Ausnahmen diskutieren und nicht wie jetzt 'Tempo 50' und dann über Ausnahmen in Richtung 'Tempo 30' diskutieren."
Im Kern sei der Ausbau Hamburgs zu einer fahrradgerechten Stadt der richtige Weg. Knieling verweist auf das Erfolgsmodell des "Stadtrads": An über 200 Stationen können rund 2.500 Räder ausgeliehen werden. Geplant ist, die Zahl schon im kommenden Jahr auf 4.500 Leihräder aufzustocken. In einem Pilotprojekt sollen auch 20 elektrisch angetriebene Lastenräder angeboten werden. Dem ADFC dauert das alles viel zu lange. Dirk Lau ist stellvertretender Vorsitzender: "Wenn man mehr Rad will, muss man dem Rad auch mehr Platz geben. Und daran scheitert es auch in der so genannten Fahrradstadt Hamburg. Das sehen wir an Straßen wie 'An der Alster', das sehen wir Straßen wie der Habichtstraße hinter Barmbek, die neu umgebaut wird und wo einfach autogerecht geplant wird wie vor 60 Jahren."
Verkehr der Zukunft
In Laus Vision für den Verkehr der Zukunft gibt es so gut wie keine privaten PKW mehr, dafür umso mehr Fahrräder, Lastenräder und E-Bikes. Ein gutes S-, U- und Busnetz würde die Menschen von A nach B bringen: emissionsfrei und nahezu geräuschlos. Nicht ganz so radikal plant Hamburg die Verkehrswende. Evolutionär, nicht revolutionär soll diese Wende ablaufen. Der Senat setzt auf Anreize, nicht auf Verbote. Vom Jahr 2020 an wolle die Hamburger Hochbahn nur noch emissionsfreie Busse anschaffen, sagt Christoph Kreienbaum, der Sprecher des Unternehmens: "Wir haben in der Hochbahn jetzt 950 Busse. Das Gros sind natürlich Dieselbusse. Das ist die Technologie. Davon aber auch nur Euro 5 und Euro 6. Euro 4 haben wir gar nicht mehr. So dass wir schon eine sehr, sehr saubere Flotte haben. Und bei der E-Mobilität haben wir jetzt verschiedene Typen im Einsatz. Insgesamt zwölf reine Elektrobusse, die auch lokal schadstoffemissionsfrei fahren, dann noch einige Hybridbusse. Das ist im Moment die Flottenstruktur. Aber wir gehen ja jetzt an die Umstellung ran."
Entscheidend bleibt aber vor allem die Reichweite der Fahrzeuge. An die rund 350 Kilometer, die ein Dieselbus mit einer Tankfüllung fahren kann, kommen die Elektrovarianten noch nicht heran. "Das können wir uns nicht erlauben! Ein Bus muss seinen Umlauf fahren können, ob es 150, 200, bis zu 300 Kilometer sind. Die muss er fahren können, sonst rechnet sich das wirtschaftlich nicht. Wir haben Ausschreibungen über 150 und 200 Kilometer. Und bei den 150 Kilometern haben wir jetzt auch eine garantierte Zusage. Und in der zweiten Tranche müssen 200 kommen, dann müssen 250 kommen. Das ist sicherlich die Herausforderung für nächsten Jahre."
In diesem und im kommenden Jahr bestellt die Hochbahn je 30 Elektrobusse. Nach und nach wird die Flotte – bis 2030 - ausgetauscht. Bis zu 700 Millionen Euro sind dafür vorgesehen. Und in einem Pilotprojekt wird das Unternehmen demnächst autonom fahrende Kleinbusse in der Hafencity einsetzen. Seit 2010 gehört Hamburg zu den acht Modellregionen, in denen Elektromobilität besonders gefördert wird. Mit 100 Ladesäulen im Stadtgebiet ging es los. Im nächsten Jahr sollen dann zeitgleich tausend E-Autos in Hamburg auftanken können.
Rund 2.500 E-Fahrzeuge gibt es in der Hansestadt. Koordiniert wird der Aufbau der Infrastruktur und die Verteilung von Fördermitteln von der Firma hySolutions. Geschäftsführer Peter Lindlahr sieht die Hansestadt auf einem guten Weg in die elektromobile Zukunft: "Wir gehen jetzt voran, wir bauen Lade-Infrastruktur auf, wir gehen in eine Vorleistung sozusagen. Auch, wenn wir wissen, dass erst im Laufe der Zeit die Fahrzeuge kommen. Und das hat sich auch bewährt, denn inzwischen gibt es natürlich auch andere Rahmenbedingungen: weil das Angebot an Fahrzeugen deutlich verbessert ist und weil natürlich viele andere Erwägungen eine Rolle spielen: Luftqualität, mögliche Fahrverbote für Dieselfahrzeuge. Im Moment haben wir da Rückenwind für Elektromobilität. Wir sehen aber, dass wir weiterhin die Rahmenbedingungen schaffen müssen."
Mehr E-Autos
Für den Fuhrpark der Hamburger Behörden werden nach und nach E-Autos angeschafft. Auch Logistikunternehmen wie DHL, DPD und UPS erproben emissionsfreie Kleintransporter. Schneller als die Zahl privater Elektroautos wachsen auch die batteriegetriebenen Carsharing-Angebote. In Stuttgart fahren bereits alle PKW des Carsharing-Anbieters Car2Go elektrisch, in Hamburg will der Anbieter DriveNow seine Flotte auf über 500 Fahrzeuge mehr als verdoppeln. Dass es mit der Elektromobilität vorangeht, begrüßt auch Manfred Braasch vom BUND.
Immerhin sinke dadurch nicht nur die Lärmbelastung, sondern auch der Ausstoß von CO2 und Stickstoffdioxid - sofern der Strom für Elektro-Busse und -Autos ökologisch erzeugt werde. Trotzdem hat Braasch Bedenken: "Es gibt Studien, die sagen, in der Gesamt-Ökobilanz ist das heutige Elektrofahrzeug gar nicht besser als eins mit Verbrennungsmotor. Insbesondere der Verbrauch von Seltenen Erden und anderen wertvollen Ressourcen spielt bei dieser Betrachtung eine Rolle. Wir dürfen auf jeden Fall nicht den Fehler machen, jetzt alle Benziner und Dieselfahrzeuge, die in der Stadt rumfahren, durch Elektrofahrzeuge auszutauschen. Das wäre viel zu kurz gedacht. Das würde auch nicht die Anforderungen des Ressourcenschutzes erfüllen."
Als erste Stadt verhängte Hamburg Ende Mai in zwei Straßen ein Durchfahrtverbot. Dass der Senat diese Maßnahme durchgesetzt hat, liegt vor allem an Gerichtsurteilen, die Anwohner der belasteten Straßen zusammen mit dem BUND angestrengt haben. Manfred Braasch begrüßt zwar die Fahrverbote, hält sie aber nicht für ausreichend und klagt bereits zum zweiten Mal vor dem Hamburger Verwaltungsgericht gegen den Hamburger Luftreinhalteplan. "Der BUND tritt ja ganz klar für ein ausgeweitetes Fahrverbot für bestimmte Diesel-Fahrzeuge in Hamburg ein. Gerade mal zwei Straßen reichen bei weitem nicht aus, um sehr schnell - und das muss jetzt sein -, die Luftqualität in Hamburg zu verbessern…"
Denn in anderen Straßen sei die Luftbelastung noch viel größer als auf den Strecken, die nun für besonders schmutzige Diesel gesperrt wurden.Die Autos der Zukunft müssten nicht nur sauberer werden, es sollen vor allem weniger werden. Peter Lindlahr, dessen Firma hySolution für die Stadt den Ausbau der Elektromobilität organisiert, ist davon überzeugt, dass viele Menschen auf die Anschaffung eines eigenen Autos verzichten würden, wenn es gute Carsharing-Angebote gebe. "Das kann auch Ride-Sharing sein. Dass ich mich überall, wo ich gerade bin, orten lasse und dann eingesammelt werde. Und das passiert mit einem Elektroauto und perspektivisch mit einem autonomen Kleinbus, der mich dann einfach mitnimmt, wenn ich mich dort angemeldet habe und gesagt habe: ‚Hier bin ich, und ich möchte abgeholt werden!‘ Das heißt, durch Digitalisierung haben wir ganz neue Möglichkeiten in der Vernetzung von Mobilität."
VW testet Kleinbusse
Ein solches Ride-Sharing-Projekt soll Ende des Jahres in Hamburg beginnen. Der VW-Konzern testet gerade in Hannover Kleinbusse, die die Menschen einsammeln und in Gruppen ans Ziel bringen. In Hamburg sollen zunächst 500 dieser elektrisch betriebenen Kleintransporter unterwegs sein. Die Fahrtkosten werden etwas über denen für eine Busfahrt und unter denen für Taxitouren liegen. Mehr Komfort, einfachere Buchungssysteme, passgenaue Mobilitätsangebote sollen die Menschen zu einem Verzicht auf das eigene Auto bewegen. Den Wohnvierteln würde das gut tun, sagt Stadtplaner Jörg Knieling. Viel zu sehr hätten sich die Städter daran gewöhnt, dass der Straßenraum von parkenden Privatwagen dominiert werde:
"Viele Autos, die in den Quartieren 23 Stunden lang stehen, vielleicht eine Stunde bewegt werden, die unsere Lebensräume blockieren. Eine Stadt voller Metall und Blech, würde ich mal sagen. Auf der anderen Seite in hohem Maße Straßenverkehr. - Nur im Verbund mit weitergehenden Maßnahmen Richtung zukunftsweisender Mobilität, Richtung Umweltverbund, Richtung Fahrradstadt kann dann im Bereich der verbleibenden Automobilität das Thema Elektromobilität eine Rolle spielen. Aber die Erwartung, dass wir damit alle Probleme lösen, das wäre viel zu kurz gegriffen!"
Viele Projekte zu einer behutsamen, sich langsam vollziehenden Verkehrswende gibt es längst. Fraglich ist, wann sich auch in den Köpfen derjenigen etwas ändert, die noch immer das private Auto nutzen, obwohl sie schon heute mit Bussen und Bahnen schneller ans Ziel kommen. Dieses Umdenken hat in Hamburg noch längst nicht begonnen: Die Zulassungszahlen neuer PKW steigen bislang.