Hamid Ismailov: „Wunderkind Erjan“
© Matthes & Seitz
Kindheit im Schatten der atomaren Zone
06:43 Minuten
Hamid Ismailov
Übersetzt von Andreas Tretner
Wunderkind ErjanFriedenauer Presse, Berlin 2022152 Seiten
20,00 Euro
Virtuos spielt er Geige, und sieht doch aus wie ein Kind – trotz seiner 27 Jahre. Erjan erzählt einem Fremden von den Geheimnissen und Bedrohungen seiner Kindheit. Im Zug durch die weite, kasachische Steppe ist viel Zeit.
Hamid Ismailov weitet die kasachische Landschaft und eine Kindheitsgeschichte zu einem Menschheitsdrama. Auf einer Eisenbahnfahrt durch die endlose Steppe lernt der Erzähler einen virtuosen Geiger kennen, der wie ein zwölfjähriger Junge aussieht, jedoch 27 Jahre alt ist. Erjan erzählt dem Fremden im Zug, wie er in der einsam gelegenen Bahnstation Qara-Shaģan mit den Großeltern, seiner Mutter und einem Onkel aufwächst. Nebenan lebt mit Eltern und Großmutter die nur wenig jüngere Aysulu, in die sich Erjan unsterblich verliebt.
Grauen aus der nahen Zone
Nach dem traditionellen Zupfinstrument des Großvaters lernt er atemberaubend schnell, die Geige zu spielen. Er geht mit dem Großvater in der Steppe auf Fuchsjagd oder lässt sich die Sagen der Ahnen von der Großmutter erzählen, während sie dem Enkel die Würmer aus dem Poloch prokelt: Erjan ist ein Wunderkind im Sommer einer Wunderkindheit.
Wäre da nicht das große Unheil: Immer wieder dröhnt plötzlich die Erde, heult der Sturm, stürzen Gebäude ein. Die Menschen bluten und liegen tagelang darnieder. Das Grauen kommt von der nahen Zone, über die niemand Genaueres weiß. Doch die Sowjetunion müsse unbedingt die Amerikaner überrunden, wiederholt Erjans in der Zone arbeitender Onkel Kerpek bei jeder Gelegenheit.
Schaudernd besichtigt Erjan mit dem Großvater zerschmolzene Betonbauten. Die Steppenbewohner ahnen, dass sie Kollateralschäden sowjetischer Atomtests sind.
Erzählte Einheit der Extreme
Trotz strengen Verbots badet Erjan auf einem Schulausflug in die Zone in einem See voll „schweren Wassers“ und wächst fortan nicht mehr. Die schöne Aysulu überragt ihn bald, und Erjans Kindheit endet in Düsternis.
Er versteht die Welt nicht mehr, und weder die großmütterlichen Sagen noch das traditionelle Hakenschlagen des Großvaters auf der Fuchsjagd bieten ihm Orientierung. Voller Qual wendet sich Erjan von Aysulu, der Musik und der Schule ab.
An keiner Stelle lässt das Geschehen an eine Parabel oder gar Allegorie denken. Ismailov, 1954 in Usbekistan geboren, aus politischen Gründen nach England geflohen und jetzt in Prag lebend, erzählt leicht und beschwingt. Die knappen, konzentrierten Szenen verbinden fortwährend die Extreme: kindliche Wahrnehmung und Weltgeschehen, Idylle und Grauen, Nähe und Ferne, Konkretes und Abstraktes.
Subversives Kauderwelsch
Als mit Radio, Plattenspieler und Fernseher die Technik in die Steppe eindringt, singen Erjan und Aysulu, die kaum Russisch und kein Englisch sprechen, begeistert den Song eines gewissen Dinrit mit: „Jashud baylıp jeyürkova …“.
Das sei, vermerkt der für den Preis der Leipziger Messe nominierte Übersetzer Andreas Tretner amüsiert in einer Anmerkung, „kasachisch tönendes Kauderwelsch“. Dinrit sei der in der Sowjetunion bekannten US-Amerikaner Dean Reed, die Liedzeile laute eigentlich „Joshua fit the battle of Jericho …“
Auch Lieder, Verwandtschaftsbezeichnungen und Wendungen sind oft kasachisch. Postkolonial subversiv wird das imperiale Russisch (und das Deutsch der Übersetzung) von der Sprache der Beherrschten durchschossen.
Als Erjan erschöpft im Zug einschläft, führt der Erzähler dessen Geschichte weiter. Die individuelle Erzählung wird zur Sage, zum Mythos. Mit „Wunderkind Erjan“ gebührt Hamid Ismailov ein Platz im literarischen Olymp.