Han Kang: "Deine kalten Hände"
Aus dem Koreanischen von Kyong-Hae Flügel
Aufbau Verlag, Berlin 2019
300 Seiten, 22 Euro
Zu dick, zu dünn und niemals frei
"Die Vegetarierin" wurde zum internationalen Bestseller. Nun ist ein weiterer Roman der südkoreanischen Autorin Han Kang auf Deutsch erschienen. Auch "Deine kalten Hände" thematisiert Essstörungen, Selbstzerstörung und das Patriarchat.
Selbstzerstörung als Weg der Frau, um der patriarchal geprägten Gesellschaft zu entkommen, ist das große Thema der südkoreanischen Schriftstellerin Han Kang, deren Bestseller "Die Vegetarierin" (deutsch: 2017) mit dem Booker International Prize ausgezeichnet und hierzulande ebenfalls von der Kritik gefeiert wurde. Auch ihr jüngst auf deutsch erschienenes Buch "Deine kalten Hände", das im Original allerdings schon 2002 veröffentlicht wurde, kreist um die Frage, wie einerseits männliche Gewalt und zum anderen gesellschaftliche Konvention weibliche Körper zurichten.
Die – beinahe vollends gesichts- und konturlose – Erzählerfigur ist ein Mann, der Bildhauer Jang Unhyong, dessen Spezialität das Anfertigen von Gipsplastiken weiblicher Körper oder auch Teile dieser Körper ist. Worin genau die Kunst besteht, nackte Körper mit Gips zu bestreichen und die getrockneten Formen anschließend vorsichtig auseinander zu meißeln und originalgetreu zusammenzubasteln, darüber kann und soll man vermutlich streiten.
Fasziniert von den zarten Händen
Der Bildhauer selbst allerdings scheint nicht auf den Gedanken zu verfallen, dass seine Kunstwerke die Fixierung der Gesellschaft auf Äußerlichkeiten und äußere Formen keinesfalls aufbrechen, sondern allenfalls illustrieren. Genauso wenig wie ihm der erotische Beiklang seines Schaffens in den Sinn kommt, obgleich er vor allem bei einer der Frauen, die ihm Modell stehen, auf schwer erklärbare Weise angezogen ist. L. – so wird sie abgekürzt – ist keinesfalls schön, vielmehr verwendet Han Kang einigen Platz darauf, ihren fettleibigen, unansehnlichen Körper zu beschreiben. Der Künstler aber ist fasziniert, vor allem von den zarten Händen der Frau, in denen sich ihm ihr eigentliches fragiles Wesen auszudrücken scheint und die er deshalb wieder und wieder in Gips gießt.
Bald haben die beiden auch eine darüber hinausgehende Affäre, wobei im Unklaren bleibt, ob er ihr trotz oder gerade wegen ihres abstoßenden Äußeren und ihrer animalischen Ess-Attacken verfällt. Oder womöglich aus Mitleid: Ihre Ess-Sucht wurde von einer Missbrauchserfahrung in der Kindheit ausgelöst. Wiederum also ist es männliche Gewalt, die eine Frau physisch und psychisch zurichtet. Als L. sich in einen anderen verliebt und sich mit aller Macht und Brutalität auf eine Idealfigur herunterhungern will, um dem Auserwählten zu gefallen, dreht sich der Teufelskreis weiter – nur eben in eine andere Richtung.
Reaktion auf die Urteile anderer
Das mag unter moralischer Perspektive alles richtig sein, literarisch aber ist Han Kangs Roman kaum doppelbödiger oder gehaltvoller als die hohlen Plastiken, die der Bildhauer herstellt. Oder gar das ständige Reden über die "Masken", die alle Menschen tragen. Und so überrascht es wenig, dass die zweite Frau, die ins Spiel kommt, unmittelbar das Misstrauen des Künstlers erregt: Ihre Erscheinung ist einfach zu perfekt. Und natürlich gilt: Auch ihr scheinbar perfekter Körper ist nur eine Reaktion auf die Urteile anderer, die sie einst hat ertragen müssen.
Es bleibt nach der Lektüre nicht allein die Frage nach der Bedeutung des Rahmens, den Han Kang ihrem Roman verleiht, eine klassische Herausgeberfiktion: Einer Schriftstellerin wird ein Manuskript zugespielt. Niedergeschrieben hat darin der Künstler, bevor er unauffindbar verschwand, seine Version der Geschichte und der Frauen. Tut er ihnen womöglich durch das Aufschreiben ein weiteres Mal Gewalt an?