Han Kang: "Unmöglicher Abschied"

Der Schnee auf den Gesichtern der Toten

10:49 Minuten
Das Cover von "Unmöglicher Abschied" zeigt eine Küstenlandschaft in Rot, darüber liegt in Blau der Name der Autorin Han Kang
© Aufbau Verlag

Aus dem Koreanischen übersetzt von Ki-Hyang Lee

Unmöglicher AbschiedAufbau, Berlin 2024

315 Seiten

24,00 Euro

Rezensiert von Wiebke Porombka |
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Liebe und Schmerz seien die Grundprinzipien ihres Schreibens, sagte Han Kang in ihrer Rede zum Literaturnobelpreis. Davon zeugt auch ihr jüngster Roman "Unmöglicher Abschied" über das Jeju-Massaker - wirkt hier aber geradezu verheerend.
Bereits in ihrem Roman „Menschenwerk“ stellte Han Kang ein Kapitel südkoreanischer Gewaltgeschichte ins Zentrum: die blutige Niederschlagung der studentischen Proteste gegen das von der Militärregierung verhängte Kriegsrecht im Jahr 1980 in der südkoreanischen Stadt Gwangju. Han Kang wurde 1970 in Gwangju geboren, ihre Familie verließ die Stadt wenige Monate vor dem staatlich angeordneten Massaker.
In ihrem jüngsten, im Original vor drei Jahren, hierzulande nun parallel zur Verleihung des Literaturnobelpreises veröffentlichten Roman „Unmöglicher Abschied“ thematisiert Han Kang einen anderen, lange beschwiegenen Teil südkoreanischer Geschichte, dessen Aufarbeitung erst mit dem Ende der Militärdiktatur in den 1980er-Jahren begonnen hat und immer wieder ins Stocken geriet. Die von Seoul eingesetzte rechtsgerichtete Lokalregierung der Insel Jeju nahm 1948 einen Aufstand linker Rebellengruppen zum Anlass, Massaker an der eigenen Bevölkerung zu verüben, der man eine zu große Nähe zum kommunistischen Regime in Nordkorea nachsagte.
Mehr als 30.000 Menschen wurden von Polizei und Armee ermordet. Das scheint gerade dieser Tage eigentümlich gegenwärtig, weil auch das Kriegsrecht, das kurzzeitig vom südkoreanischen Präsidenten verhängt wurde, von diesem wieder damit begründet wurde, Südkorea „vor der Bedrohung durch nordkoreanische kommunistische Kräfte zu schützen“.

Annäherung an die Opfer des Massakers

„Unmöglicher Abschied“ beginnt mit einem Traum der Erzählerin, einer Schriftstellerin – so dass kaum überrascht, dass Han Kang diesen Traum ganz ähnlich in ihrer Stockholmer Rede im Vorfeld der Nobelpreisverleihung zitierte – als Anfang und Anlass der literarischen Annäherung an die Opfer des Jeju-Massakers.

Es schneite stark. Ich stand auf einem Acker, an dessen einem Ende sich ein niedriger Berg anschloss. Auf dieser Seite war er vom Fuß bis zur Kuppe mit tausenden von schwarzen Baumstämmen bestanden, die etwa so dick wie Eisenbahnschwellen und verschieden hoch waren, wie Menschen unterschiedlichen Alters. Gleichzeitig waren sie nicht kerzengerade gewachsen, sondern leicht gebogen oder geneigt und wirkten, als hätte man am Hang Tausende von Männern, Frauen und mageren Kindern im Schnee ausgesetzt, die die Schultern hochzogen. Ist das hier ein Friedhof?, fragte ich mich.

"Unmöglicher Abschied", S. 7

Und kurz darauf heißt es:

Ich wanderte zwischen den dunklen Stämmen, auf denen Schneeflocken wie Salzkristalle lagen, und den jeweils dahinter liegenden Erdhügeln umher. Unvermittelt blieb ich stehen, weil ich seit einer Weile Wasser unter meinen Turnschuhen spürte. Seltsam, ging es mir durch den Kopf, als ich bemerkte, dass mir das Wasser inzwischen bis zu den Knöcheln stand. Ich wandte mich um und traute meinen Augen nicht. Dort, wo ich am Ende des Ackers den Horizont wahrgenommen hatte, befand sich ein Meer. Gerade kam die Flut.

"Unmöglicher Abschied", S. 7

Später im Roman – daher wohl die Verbindung zu Wasser und Meer – wird Han Kang Szenen von Massenerschießungen am Strand schildern, die Leichen wurden anschließend von den Mördern achtlos ins Meer geworfen. Andere Opfer wurden in Minenschächten eingeschlossen.
Die Annäherung an die mehr als sieben Jahrzehnte zurückliegenden Verbrechen erfolgt in einem atmosphärisch dichten, beinahe somnambul anmutenden Erzählstrom, in dem sich Kunst und Wirklichkeit, individuelles Empfinden und historische Verfasstheit permanent spiegeln, in dem Zeitebenen miteinander verschmelzen ebenso wie sich Traumsequenzen und reale Handlungsebene verzahnen, mitunter bis zur Ununterscheidbarkeit.

Schnee ist das zentrale Motiv

Neben den Fingerkuppen, die literarisch immer wieder variiert werden, bildet der Schnee in Fortführung des Auftaktbildes das zentrale Motiv. Schnee wird etwa von den Gesichtern der Ermordeten des Massakers gewischt, um Familienangehörige in der Masse der Leichen zu finden. Dieses Freilegen der Gesichter illustriert zugleich den literarischen Rekonstruktionsprozess. Genauso setzt der Schnee eine bestimmte Form von Empfindsamkeit ins Bild:

Wenn der Schnee auf den nassen Asphalt trifft, scheint er einen Moment zu zögern. Wie der klagende Ton einer Person, die ein Gespräch gewöhnlich mit der Floskel ‘Ja, so ist das…‘ beendet, wie der Nachklang eines Musikstücks, der die Stille am Ende vorwegnimmt, oder wie die Fingerkuppen, die vorsichtig zurückgezogen werden, anstatt jemandes Schulter zu berühren, sinken die Schneekristalle auf den schwarzen, nassen Asphalt und verschwinden sogleich spurlos.

"Unmöglicher Abschied", S. 85

Auf der Handlungsebene - notdürftig verkürzt zusammengefasst - wird die Erzählerin, die sich komplett aus dem eigenen Sozial- und Familienleben in eine eigene Wohnung zurückgezogen hat, überraschend zu ihrer Freundin, der Dokumentarfilmerin Inseon, ins Krankenhaus gerufen. Inseon hat sich zwei Fingerglieder mit der Kreissäge abgetrennt, als sie, das wird der Erzählerin bald klar, ein gemeinsames Kunstprojekt umsetzen wollte: eine Installation der Baumstämme, so wie die Erzählerin sie geträumt hat.
Um die Nervenverbindungen der wiederangenähten Fingerglieder zu aktivieren, muss Inseon in dreiminütigen Abständen in die Finger gestochen werden. Der Schmerz also stiftet Verbindung, aktiviert die physiologische Erinnerung, wird zur Voraussetzung der Heilung. Das gilt bei Han Kang für die physisch versehrten Finger genauso wie für den seelischen Aufarbeitungsprozess der historischen Versehrtheiten.
Ausgerechnet auf Jeju betreibt Inseon die abgelegene Holzwerkstatt, in der sich der Unfall ereignete. Und nun, ans Krankenbett gefesselt, bittet sie ihre Freundin, nach dem geliebten Vogel zu sehen, den sie nach dem Unfall allein und ohne ausreichend Futter im Käfig zurücklassen musste.
Ob dieser Reisegrund nach Jeju – und damit zunächst einmal die geografische Annäherung an die Geschichte der Opfer des Jeju-Massakers – noch zur Realitätsebene zählt oder es sich um eine Traumsequenz handelt, sei dahingestellt. Offenkundig ist ohnehin die emotionale und körperliche Verfasstheit der Erzählerin weitaus wesentlicher. Nach ihrer Ankunft auf Jeju gerät sie in einen gewaltigen Schneesturm, kommt vom Weg ab und stürzt einen Abhang hinunter:

Mein Körper ist nicht mehr wie ein Ball zusammengerollt. Meine Hände, die Hüter des Griffs, haben sich komplett voneinander gelöst. Taub, wie sie sind, hebe ich sie zu den Augen und wische das Eis ab. Ich höre das starke Rauschen des Windes im Wald. Hat mich dieses Geräusch geweckt? Der Moment, in dem ich die Lider öffne, hält eine Überraschung bereit. Da ist ein schwaches Licht zu sehen. Ein dunkelblauer Schein, kaum von der Finsternis zu unterscheiden, liegt über dem Schnee, der sich neben meinem Gesicht anhäuft. Dämmert es schon? Oder träume ich noch?

"Unmöglicher Abschied", S. 133

Isolation in brütender Hitze

Dann taucht plötzlich Inseon auf. Ob die Erzählerin in diesem Schneesturm das Bewusstsein dauerhaft verliert und an der Schwelle zwischen Leben und Tod eigene frühere Recherchen zum Jeju-Massaker vergegenwärtigt oder ob die beiden Freundinnen gemeinsam die von Inseons Mutter gesammelten familiären Zeugnisse des Verbrechens betrachten, ob die Erzählerin gar die ganze Zeit in der Wohnung in Seoul verbringt, in die sie sich in brütender Sommerhitze zurückgezogen und von ihrem Umfeld isoliert hat, lässt Han Kang in einer Schwebe, die einen gewissen Reiz haben könnte.
Literarisch mindestens fragwürdig allerdings ist die überorchestrierte Bildhaftigkeit, mit der Han Kang ihr Erzählen ausstaffiert, etwa wenn sie über die Berichte der Angehörigen von Opfern schreibt:

Diesen Sätzen voll Zurückhaltung, die im Dialekt von Gyeonbuk intoniert sein mussten, wohnt etwas inne, das in mir eine Resonanz auslöst. Im Licht der Kerze ziehen sie mich in ihren Bann, brodelnd wie ein Eintopf aus roten Bohnen, aber mit übelriechenden Ausdünstungen von Blut.

"Unmöglicher Abschied", S. 269

Emotionale Erschütterungen

Geradezu verheerend ist es, dass Han Kang die beiden auch in ihrer Nobelpreisrede herausgestellten wesentlichen Prinzipien ihres Schreibens, Liebe und Schmerz, in einer Weise universalisiert, dass sie, womöglich unfreiwillig, schließlich die Gesichter der Opfer erzählerisch doch wieder mit Schnee verdeckt, um im Bild des Romans zu bleiben. Am Ende geht es vor allem um die emotionalen Erschütterungen der Erzählerin selbst, wenn sie etwa den toten Vogel anschaut, ob man diesen nun allegorisch lesen will oder nicht.

Während ich den winzigen Körper betrachte, der in all der Stille eine Lebendigkeit ausstrahlt, als wäre bis gerade eben noch warmes Blut durch ihn geflossen, spüre ich wie die verloschene Existenz mit ihrem Schnabel an meine Brust klopft und eintreten will. Sie dringt bis tief in mein Herz vor, um dort zu nisten, solange es schlägt.

"Unmöglicher Abschied", S. 145

Man muss nicht gleich zu dem bösen Urteil kommen, dass hier Erzählerin wie Schriftstellerin allzu sehr ihre eigene Hypersensibilität zelebrieren – ähnlich den Frauenfiguren in Han Kangs Erfolgsroman „Die Vegetarierin“ oder jüngst in ihrem Roman „Griechischstunden“. Wundern kann man sich aber ganz sicher über eine Nobelpreis-Jury, die pompöse Empfindsamkeit sprachlichem Vermögen vorzieht.
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