Hannah Arendt: "Wir Juden. Schriften von 1932 bis 1966"
Herausgegeben von Marie Luise Knott und Ursula Ludz
Piper Verlag, München 2020
464 Seiten, 34 Euro
Das Gefühl, etwas Besonderes zu sein
09:57 Minuten
Hannah Arendt hat Kultstatus. Zahlreiche ihrer Texte werden noch immer publiziert, Abhandlungen über sie geschrieben. Jetzt ist der Essayband "Wir Juden" erschienen, der ihre intellektuelle Entwicklung zum Jüdischen nachvollziehbar macht.
"Jude sein gehört für mich zu den unbezweifelbaren Gegebenheiten meines Lebens, und ich habe an solchen Faktizitäten niemals etwas ändern wollen, nicht einmal in der Kindheit."
Diesen Satz aus Hannah Arendts Briefwechsel mit Gershom Sholem zitiert der Journalist Günter Gaus in seinem berühmten Fernsehinterview mit Hannah Arendt aus dem Jahr 1964, und die berühmte Philosophin erklärt dazu:
Arendt: "Das Wort ‚Jude‘ ist bei uns nie gefallen, als ich ein kleines Kind war. Es wurde mir zum erstenmal entgegengebracht durch antisemitische Bemerkungen – es lohnt sich nicht zu erzählen – von Kindern auf der Straße. Daraufhin wurde ich also sozusagen ‚aufgeklärt‘.
Gaus: "War das für Sie ein Schock?"
Arendt: "Nein."
Gaus: "Hatten Sie das Gefühl, jetzt bin ich etwas Besonderes?"
Arendt: "Ja, sehen Sie, das ist eine andere Sache. Ein Schock war es für mich gar nicht. Ich dachte mir: Ja also, so ist es. Ob ich das Gefühl gehabt habe, dass ich etwas Besonderes bin? Ja!"
Gaus: "War das für Sie ein Schock?"
Arendt: "Nein."
Gaus: "Hatten Sie das Gefühl, jetzt bin ich etwas Besonderes?"
Arendt: "Ja, sehen Sie, das ist eine andere Sache. Ein Schock war es für mich gar nicht. Ich dachte mir: Ja also, so ist es. Ob ich das Gefühl gehabt habe, dass ich etwas Besonderes bin? Ja!"
Langsam die jüdische Frage verstehen
So klar und selbstbewusst sich Hannah Arendt zu ihrem Judentum bekannt hat, so klar und kompromisslos hat sie auch über jüdisches Leben zwischen Assimilation und Antisemitismus geschrieben. Der kürzlich erschienene und von den ausgewiesenen Arendt-Kennerinnen Marie Luise Knott und Ursula Ludz herausgegebene Band "Wir Juden" zeigt, wie zentral die Beschäftigung mit dem Jüdischen für die Entwicklung der politischen Denkerin Hannah Arendt gewesen ist. Herausgeberin Marie Luise Knott:
"Am Anfang habe ich gefragt: Warum ediert man die Texte zur jüdischen Frage gesondert? Das ist eine Art Partikularisierung, die mir spontan erst einmal nicht gefiel und je länger ich gearbeitet habe daran, desto mehr gefiel. Denn eigentlich ist das jüdische Thema das Hintergrundthema zu allem weiteren, das ist das Erstaunliche daran, dass man das langsam, langsam, langsam versteht, dass hier Fragen entwickelt wurden, die hinterher weitergehen."
Als Prolog ist dem Sammelband der Text "Aufklärung und Judenfrage" aus dem Jahr 1932 vorangestellt, denn so Arendt in ihrem einleitenden Satz:
"Die moderne Judenfrage datiert aus der Aufklärung: die Aufklärung, das heißt die nichtjüdische Welt hat sie gestellt. Ihre Formulierungen und ihre Antworten haben das Verhalten der Juden, haben die Assimilation der Juden bestimmt."
Es folgen 19 Essays, thematisch unter drei Aspekten zusammengefasst, in denen Arendt letztlich dafür wirbt, die Geschichte aus einer jüdischen Perspektive zu schreiben und zu verstehen: "Für ein neues kulturelles Selbstbewusstsein" versammelt unter anderem Essays über Martin Buber, Stefan Zweig, und Franz Kafka.
Hier entwickelt Arendt den Gedanken einer bewussten Paria- Perspektive, die Perspektive einer jüdischen Außenseiterrolle. Diese Rolle, so Arendt, erlaube durch ihre Distanz bessere Einblicke in die Gesellschaft und Geschichte. Hier erscheint auch Arendts Essay "Wir Flüchtlinge" von 1943, in dem sie sich mit der Situation, der von den Nationalsozialisten Verfolgten und Vertriebenen auseinandersetzt,
Trotz Verfolgung die Wahrheit suchen
Arendt selbst war 1933 nach Frankreich geflüchtet und arbeitete dort für die zionistische Organisation. Als die Deutschen sieben Jahre später in Paris einmarschieren, flüchtet sie in die USA.
"Sieben Jahre lang spielten wir die lächerliche Rolle von Leuten, die versuchten, Franzosen zu sein – oder zumindest künftige Staatsbürger; aber bei Kriegsausbruch wurden wir trotzdem als ‚boches‘ interniert. Nach dem Einmarsch der Deutschen musste die französische Regierung nur den Firmennamen ändern: man hatte uns eingesperrt, weil wir Deutsche waren, jetzt ließ man uns nicht frei, weil wir Juden waren."
Arendts Postulat: Trotz der Verfolgung die Wahrheit zu suchen und sich als Jüdin unabhängig zu machen von nicht-jüdischen Zuschreibungen. Ihr Fazit in "Wir Flüchtlinge" lautet:
"Jene wenigen Flüchtlinge, die darauf bestehen, die Wahrheit im Zweifelsfall bis zur 'Unanständigkeit' zu sagen, gewinnen im Austausch für ihre Unpopularität einen unbezahlbaren Vorteil: Geschichte ist für sie nicht länger ein versiegeltes Buch und Politik kein Privileg der Nichtjuden. Die von einem Land ins andere vertriebenen Flüchtlinge repräsentieren heute die Avantgarde ihrer Völker – vorausgesetzt, dass sie ihre Identität behalten."
Theorien halfen nicht mehr weiter
"Die Erfahrung liegt am Grunde ihres Denkens. Weil man mit den Theorien nicht mehr weiter gekommen ist am Ende der Weimarer Republik. Das macht aber auch glaube ich, warum die heute so attraktiv ist, die Hannah Arendt. Weil sie nicht von Zeiten und Theorien ausgeht, in denen das und das gedacht wird, sondern weil sie von dem ausgeht und das auch so schreibt, dass man das mit- oder nachvollziehen oder spüren kann, was sie erfahren hat oder was andere erfahren haben - das macht ja die Lebendigkeit von ihr aus, glaube ich."
Unter der Überschrift "Für ein neues politisches Selbstbewusstsein" versammelt der Essayband in einem zweiten Abschnitt sechs Essays, die sich vor allem mit der Errichtung eines jüdischen Staates in Palästina beschäftigen. Zentral darin der Text "Der Zionismus aus heutiger Sicht", den Arendt 1945 für das amerikanische Menorah Journal schrieb – aus: "nahezu panischer Angst um Palästina", wie sie an Gershom Scholem schrieb. Doch diese Sorge hielt sie nicht ab von scharfer Kritik:
"Statt sich zur politischen Avantgarde des gesamten jüdischen Volkes zu machen, entwickelten die Juden Palästinas einen Geist der Selbstbezogenheit, auch wenn ihre ausschließliche Beschäftigung mit den eigenen Angelegenheiten verschleiert wurde durch die Bereitschaft, Flüchtlinge aufzunehmen, die ihnen helfen sollten, ein stärkerer Faktor in Palästina zu werden."
Im dritten Teil des Buches schließlich finden sich Texte, die bereits so etwas wie eine Holocaust-Forschung vorweg nehmen, wie die Herausgeberinnen im Nachwort schreiben: Buchrezensionen, Überlegungen zu "Sozialwissenschaftlichen Methoden und d(er) Erforschung der Konzentrationslager", ein 1966 veröffentlichter Bericht zum Auschwitz-Prozess.
Für den heutigen Leser immer wieder überraschend, wie aktuell Arendts Überlegungen wirken – etwa in ihrem Text "Saat der faschistischen Internationale" von 1945. Laut Arendt sei der moderne Antisemitismus nie bloß Angelegenheit des extremen Nationalismus gewesen, sondern international betrieben worden. Und sie warnt vor seinen Gefahren:
"Es steht außer Frage: Dieses eine Mal wurde der Faschismus besiegt, aber wir haben noch lange nicht das Erzübel unserer Zeit ausgerottet. Denn dessen Wurzeln sind stark, und sie heißen – Antisemitismus, Rassismus, Imperialismus."
Arendts Perspektiven sind immer noch aktuell
Das klingt auch in unserer politischen Gegenwart aktuell. Doch Herausgeberin Marie Luise Knott warnt davor, Arendts Gedanken von damals eins zu eins in die Gegenwart zu projizieren.
"Man kann die Texte nicht verlängern, weil wenn man sich anguckt, wie Arendt zu Israel und zur Palästina-Frage sich verhalten hat und was sie gesagt hat, dann ist das nicht immer das gleiche. Und jeder, der einen Satz zitiert, hat sich schon vertan. Denn es sind Texte, die zu verschiedenen Zeiten verschiedene Gedanken haben, weil verschiedene Fragen im Zentrum stehen. Und: Weil jedes Urteilen immer nur ein Zwischenurteilen ist."
Relevant für heute sei aber Arendts Methode, Geschichte neu zu denken, sagt Marie Luise Knott:
"Ich benutze den Begriff der Entkolonisierung. Das heißt, ich behaupte, dass Hannah Arendt einen Weg gegangen ist – und wenn man die Texte zusammenstellt, sieht man das auch wirklich, wie die Juden es schaffen können sich nicht länger als Anhängsel anderer Geschichten zu verstehen."
In "Wir Juden" fordert Hannah Arendt Jüdinnen und Juden dazu auf, sich unabhängig vom Mehrheitsdiskurs die eigene Geschichte anzueignen und damit neue Perspektiven aufzuzeigen. Für Leserinnen und Leser heute ist das nicht nur anregend – sondern in einer immer komplexer werdenden Welt auch hoch aktuell.