Hanne Ørstavik: "Roman. Milano"
Aus dem Norwegischen von Andreas Donat
Karl Rauch Verlag, Düsseldorf 2020
368 Seiten, 24 Euro
Auf der Suche nach einem Gefühl namens Liebe
06:27 Minuten
Die junge Zeichnerin Val lernt auf einer Osloer Vernissage den italienischen Kunsthändler Paolo kennen und zieht zu ihm nach Mailand. Doch sie kann nicht lieben, nicht einmal fühlen. So wenig Val im Gleichgewicht ist, so wenig ist es auch Hanne Ørstaviks neuer Roman.
Hanne Ørstavik, geboren 1969 im nördlichsten Norwegen, ist nicht nur in ihrer Heimat ein großer Name in der Literatur. Bei uns wurde sie spätestens 2017 mit ihrem schmalen Roman "Liebe" bekannt - einer fast nüchtern geschriebenen, aber ergreifenden Geschichte, in der beide Hauptpersonen, eine alleinerziehende Mutter und ihr achtjähriger Sohn, auf der Suche nach Liebe sind.
Manische Tiefenanalyse
Auch in ihrem neuen Buch "Roman. Milano" geht es um die Suche nach Liebe. Oder genauer: nach dem Gefühl der Liebe. Es ähnelt einem ausführlichen Tage- oder Notizbuch, es ist ein Roman manischer Tiefenanalyse.
Hauptperson ist die 27-jährige norwegischen Zeichnerin Val, die sich in den Kunsthändler Paolo verliebt und zu ihm nach Mailand zieht. Aber was bedeutet lieben überhaupt?
"Sie weiß es nicht. Vielleicht tut sie es, ohne es zu fühlen, ohne zu wissen, dass es das ist, was sie tut."
Von den Eltern verlassen
Den erschütternden Grund ihrer Liebesunfähigkeit erfährt man zunächst nur in einem Nebensatz: Mit dreieinhalb Jahren wurde sie von ihren Eltern verlassen und einer Tante übergeben.
Erst mit zwölf Jahren sieht sie ihre Eltern wieder, zunächst ein Wochenende in Kopenhagen und dann eine Ferienwoche auf Rhodos. Kurz darauf erhält sie einen Brief ihres Vaters: Sie seien nicht fähig, Eltern zu sein. Welche seelischen Folgen das für ein 12-jähriges Kind hat, sehen wir hier.
Da sie nicht lieben, ja nicht einmal "fühlen" kann, weiß sie auch nicht, ob sie selber geliebt wird. Obwohl es ihr Paolo immer wieder versichert; aber mit seiner Frau, von der er seit Jahren getrennt lebt, ist er weiterhin verheiratet. "Angst" ist der zentrale Begriff in Vals Daseins, sie ist nah an der Depression. Nur das Zeichnen hilft ihr, "unbekannte Orte" in ihr zu beleuchten.
Sehnsucht nach Leichtigkeit
In ihrer Sehnsucht nach Leichtigkeit muss Val an die italienische Schauspielerin Monica Vitti in einem Antonioni-Film denken, und plötzlich stellt uns Ørstavik Antonionis Werk vor, vor allem die früheren Filme. Von "Der Schrei" gibt es eine eingehende Inhaltsangabe.
Dabei stellt sich einem allerdings unwillkürlich die Frage: Warum ist Antonionis Geschichte, die nur erzählt, was ist, ohne es erklären zu wollen, so viel bewegender als Ørstaviks Versuch, allem auf den Grund gehen zu wollen?
So wenig Val im Gleichgewicht ist, so wenig ist es der Roman. Nach einem ziemlich statischen Verlauf kommt ganz am Schluss die überraschende Wende, unversehens will sich Paolo doch scheiden lassen, im Bett ist es, "als berührten sie einander zum ersten Mal", und zwischen ihr und Paolo "gibt es keinen Abstand" mehr.
Diese Plötzlichkeit ist unglaubwürdig.