Hannelore Cayre: "Reichtum verpflichtet"
Aus dem Französischen von Iris Konopik
Ariadne, Hamburg 2021
254 Seiten, 20 Euro
Ein genialer Plan gegen die Ausbeutung
03:53 Minuten
Menschenhandel, Korruption und Ausbeutung: Die französische Schriftstellerin Hannelore Cayre sucht in ihrem Paris-Krimi "Reichtum verpflichtet" nach Parallelen zwischen dem 19. Jahrhundert und der Gegenwart.
Blanche de Rigny arbeitet in der Gerichtsreprografie. Sie digitalisiert alle Dokumente, die in Zuge von Ermittlungen und Verfahren gesammelt werden, und stellt sie den Prozessbeteiligten zur Verfügung. Es ist eine Stelle, an der sie eine Menge Informationen bekommt, die sie durchaus gewinnbringend einsetzt, indem sie die Kundenlisten von verurteilten Drogendealern an deren Komplizen verkauft.
Die Stelle ermöglicht Blanche zudem, ihre eigene Familiengeschichte zu erforschen. Gerade erst hat sie durch einen Zufall herausgefunden, dass sie mit den vermögenden und einflussreichen de Rignys verwandt ist. Mit deren Geld könnte sie die Welt verändern.
Freigekauf vom Wehrdient
In den Gegenwartspassagen erinnert Hannelore Cayres "Reichtum verpflichtet" durchaus an ihren großartigen Roman "Die Alte". Auch Blanche ist eine Frau, der die Familie, das Leben und die Gesellschaft nicht gut mitgespielt haben. Bisher hat sie nur zum eigenen Vorteil gegen die Regeln verstoßen, aber mit dem Geld der de Rignys wäre Größeres möglich.
Also beginnt sie, für das Ableben ihrer neu entdeckten, durchs Familienerbe zutiefst verkommenen und degenerierten Verwandtschaft zu sorgen. Dazu kommt eine zweite Zeitebene, 1870/1871 in Paris. Blanches möglicher Urgroßvater Auguste de Rigny liest Marx, glaubt an Bildung und die Macht des Volks.
Dann wird er zur Musterung geladen und muss damit rechnen, zum neunjährigen Wehrdienst verpflichtet zu werden. Seine wohlhabende Familie will einen Ersatzmann für ihn kaufen, was der "Kommunarde" Auguste zwar eigentlich ablehnt. Aber dem drohenden Krieg mit Preußen würde er dennoch gern entgehen.
Angebot und Nachfrage
Aus dieser Perspektive sind sich das 19. und 21. Jahrhundert durchaus ähnlich: In der Gesellschaft bestimmen die, die Geld haben. Sie kommen immer durch, egal, wer die Regierung stellt. Menschen, die etwas verändern wollen, werden als weltfremde Idealisten angesehen. Und weiterhin werden Menschen gekauft und verkauft.
Wurde im 19. Jahrhundert der Wert eines Menschenlebens in Frankreich durch Angebot und Nachfrage bestimmt, gibt es in der Gegenwart anderen Methoden, diesen Wert zu ermitteln. Beispielsweise wird das 120-fache des BIP eines Landes pro Einwohner herangezogen. Demnach ist ein Franzose fünf Millionen US-Dollar wert, ein Eritreer 70.000 US-Dollar.
Scharfsichtig und wütend
"Reichtum verpflichtet" durchzieht eine scharfsichtige, gefährlich kontrollierte Wut. Cayre formuliert klar, dass sozialer Aufstieg durch Arbeit nicht möglich ist und einzelne Familien seit Jahrhunderten ihr Vermögen durch Menschenhandel, Korruption und Ausbeutung vermehren. Sie benennt soziale Ungerechtigkeit und Arroganz "von oben" gegenüber denen "von unten".
Aber sie kritisiert auch diejenigen, die sich mit diesem System allzu leicht abfinden und nur moderate Forderungen stellen. Diese Gesellschaft braucht eine Revolution. Blanche de Rigny hat einen so genialen Plan dafür, dass man insgeheim hofft, diese auf den ersten Blick unscheinbare Frau möge ihn bald in die Tat umsetzen.