Hannes Bahrmann: "Rattennest. Argentinien und die Nazis"

Eine neue Heimat für die Täter

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Buchcover "Rattennest. Argentinien und die Nazis" auf orangem Hintergrund
In Argentinien fanden viele deutsche Nationalsozialisten nach 1945 einen ihnen günstigen Unterschlupf, zeigt das Buch "Rattennest". © Deutschlandradio / Ch. Links Verlag
Von Marko Martin · 26.08.2021
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Hannes Bahrmann beschreibt die Nachkriegskarrieren deutscher Nazis in Argentinien. In seinem Buch "Rattennest" wird erklärt, warum sie in dem südamerikanischen Land gar nicht untertauchen mussten und sogar erwünschte Einwanderer waren.
Spätestens seit Frederick Forsythes Bestseller "Die Akte Odessa" ist das Thema auch in der Populärkultur angekommen: Nazis und ihre Nachkriegsflucht nach Argentinien. Und selbst 2020 finden sich in den Buchhandlungen von Buenos Aires schnell geschriebene Schmöker, die vermeintlich neue Belege liefern für das Uraltgerücht, Adolf Hitler habe einst an Bord eines deutschen U-Bootes Patagonien erreicht.
Dabei ist die Realität hinter solchen Aufgeregtheiten ungleich komplexer und deprimierender. Der versierte Lateinamerika-Kenner Hannes Bahrmann – unter anderem Autor profunder Bücher über die gescheiterten Revolutionen in Kuba, Nicaragua und Venezuela – leistet in seinem Buch "Rattennest. Argentinien und die Nazis" deshalb eminente Aufklärungsarbeit. Da doch, so seine faktenbeglaubigte These, die Nazis den Staat am Rio de la Plata keineswegs notgedrungen als Refugium gewählt hatten, sondern im Gegenteil Argentiniens Staatsspitze selbst alles dafür getan hatte, die Täter des so genannten Dritten Reichs herein zu holen.

Unheilvolle historische Kontinuitäten

Erklärbar wird dies durch die Geschichte Argentiniens: Eine Einwanderergesellschaft, nicht zuletzt entstanden durch Massenmord an den zuvor ansässigen Indigenen und durch die Dezimierung jener Afroargentinier, ehemaliger Sklaven, auf deren Dienste man im Kampf gegen die spanische Kolonialmacht noch gern zurückgegriffen hatte. Argentinien hatte nämlich nicht nur Reglement und sogar Pickelhaube vom preußischen Militär übernommen, sondern auch bereits in den Anfangsjahren des 20. Jahrhunderts dubiosen Ideen-Import betrieben: Eugenik, "Rassenforschung", pseudo-akademische Studien über "Aufnordung" und dergleichen mehr.
Zudem grassierte im Land, das zahlreichen osteuropäisch-jüdischen Einwanderern (und dann bis Ende der 30er-Jahre auch deutsch-jüdischen Flüchtlingen) zu einer neuen Heimat geworden war, ein virulenter Antisemitismus – vor allem im Milieu jener Zehntausenden von "Auslandsdeutschen", die der NS-Propaganda zumeist willig folgten. Detailliert beschreibt Hannes Bahrmann, welche Massenaufmärsche in Buenos Aires stattfanden, wie selbst in der Provinz für Hitler geworben wurde, wie engmaschig auch das Agentennetz war.

Problemlose Aufnahme von Nazis

Die nach Weltkriegsende aus Europa geflüchteten Nazi-Verbrecher – der KZ-Arzt Josef Mengele und der Holocaust-Organisator Adolf Eichmann waren nur die prominentesten unter ihnen – fanden deshalb in Argentinien eine geistige und personelle Gemengelage vor, wie sie günstiger nicht sein konnte. Und nein, viele von ihnen mussten nicht einmal untertauchen, sondern konnten sogar ganz offiziell aufsteigen. Erleichtert wurde ihnen dies durch den argentinischen Präsidenten Juan Domingo Perón, der als quasi rechtslinker großsprecherischer Populist 1946 zur Macht gekommen war, seine Sozialprogramme durch Pump finanzierte und, ein "Globalisierungskritiker" avant la lettre, davon träumte, sein Land ökonomisch autark zu machen. Helfen sollten ihm dabei Nazi-Deutsche, da diese, in der verqueren Logik des Generals, quasi naturgemäß effizient und versiert seien.

Nischen für Schwindler und Verbrecher

Freilich fiel Perón dabei auch auf Schwindler herein, etwa auf einen Wissenschaftsdarsteller, der Unmengen von Geld dafür erhielt, an einer Kernspaltung ohne Uran zu arbeiten, die dann selbstverständlich nie funktionierte. Der dänischstämmige KZ-Arzt Carl Vaernet wiederum brachte es zum engsten Berater des Gesundheitsministers; er hatte eine künstliche Sexualdrüse entwickelt, mit der vermeintlich Homosexualität "geheilt" werden konnte. "Er bekam ein Büro im Gesundheitsministerium und die Genehmigung, in argentinischen Strafanstalten homosexuelle Probanden zu Forschungszwecken zu finden." Andere, so etwa einstige Massenmörder im deutsch besetzten Osteuropa, fanden ihre Nischen in der deutsch-argentinischen Handelsgesellschaft oder in der verstaatlichten Wirtschaft.
Barmanns skrupulös recherchiertes und gleichzeitig ungemein lesbares Buch ist nicht zuletzt deshalb ein Augenöffner, weil es im Epilog die Verbindungslinie zur Gegenwart zieht: Denn noch heute gilt im seit nunmehr 70 Jahren mehr oder minder bankrotten Argentinien ein illiberal mäandernder Peronismus als Allheilmittel, wird der sinistre General samt Gattin Evita geradezu kultisch verehrt, mischen sich Heilsversprechen und Verschwörungstheorien. Und zumindest eine der noch immer sichtbaren Motivationslinien führt direkt nach Nazi-Deutschland.

Hannes Bahrmann: "Rattennest. Argentinien und die Nazis"
Ch. Links Verlag, Berlin 2021
370 Seiten, 20 Euro

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