Hanns-Josef Ortheil: "Die Mittelmeerreise"
Luchterhand Verlag, München 2018
640 Seiten, 24 Euro
Frachtschiff in Richtung Jugend
Hanns-Josef Ortheil bemüht sich im Roman "Die Mittelmeerreise" um eine literarische Rekonstruktion seiner Kindheit und Jugend. Es geht um das Jahr 1967, in dem er mit seinem Vater auf einem Schiff im Mittelmeer Stürme und Seekrankheiten durchlebt.
Im Juli 1967, während in Berlin Studenten auf die Straße gehen und die USA von Rassenunruhen erschüttert werden, geht der fast 16-jährige Hanns-Josef Ortheil mit seinem Vater in Antwerpen an Bord eines schwer beladenen Frachtschiffs. Die beiden treten eine mehrwöchige Reise an, die sie durch die Meerenge von Gibraltar ins Mittelmeer und weiter bis nach Griechenland und Istanbul führt und die zugleich für den in seiner eigenen Welt lebenden Jungen ein erster Schritt in ein anderes Leben wird.
Befreiung aus der Sprachlosigkeit
Nach seinem Bestseller "Die Moselreise" und der vor vier Jahren erschienene Buch "Die Berlinreise" ist "Die Mittelmeerreise" der dritte Roman, den der Schriftsteller Hanns-Josef Ortheil aus Notizen, Tagebucheinträgen, Erzählungen, also aus Originaldokumenten seiner Kindheit und Jugend komponiert hat. Dass Ortheil bereits als Kind täglich seine Beobachtungen genau notierte und später zu Erzählungen verarbeitete, hat damit zu tun, dass er bis zu seinem siebten Lebensjahr nicht sprach.
Die Eltern hatten während des Zweiten Weltkrieges und unmittelbar danach vier Söhne verloren. Als einziges überlebendes Kind der Familie wuchs Ortheil in einer stillen Gemeinschaft mit der Mutter auf, die über dem Verlust ihrer Kinder die Sprache verloren hatte. Nur der Vater bildet eine Art Brücke zur Außenwelt, zeigt ihm geduldig und unbeirrbar das genaue Beobachten und Benennen der Umgebung und befreit ihn langsam aus seiner Sprachlosigkeit - wovon Ortheil in seinem außergewöhnlichen Roman "Die Erfindung des Lebens" erzählt.
Schrullige Besatzung an Bord
Gemeinsam gehen die beiden immer wieder auf Reisen und widmen sich dem "genauen, gescheiten Beobachten", lesen Homers "Odyssee", überstehen schwere Stürme und Seekrankheit, schreiben Tagebuch oder Postkarten an die Mutter und unterhalten sich mit den anderen Besatzungsmitgliedern: Kapitän Reckling, sein Ersten Offizier Erwin Mühlenthal, Ingenieur Heinrich Segemann und der Steward Denis bilden eine wunderbar skurriles Panoptikum menschlicher Sehnsüchte, Leidenschaften und Schrulligkeiten der fernen Seemannswelt.
Während Ortheils Vater, der im übrigen eine der tröstlichsten und lebensbejahendsten Vaterfiguren der Weltliteratur sein dürfte, auf der Fahrt seine Zeichenlust wiederentdeckt und in Anblick der afrikanischen Küste zu Höchstform aufläuft, beobachtet, sortiert und reflektiert sein Sohn all die ungewöhnlichen Eindrücke, mit denen er in der ungewohnten Umgebung konfrontiert ist.
Daneben arbeitet er mit dem Funker Moro an der Bordzeitung oder diskutiert mit Denis, dem nur wenig älteren Steward, über die neuesten Beatles-Songs, die das musikalische Wunderkind bislang ebenso ignoriert hat wie intensivere Kontakte zum anderen Geschlecht.
Kontakt mit der eigener Jugend
Für den angehenden Pianisten, Latein- und Altgriechisch-Schüler wird die Mittelmeerreise mit seinem Vater so auch zu einer persönlichen Odyssee ins moderne Leben. Und auch für den Leser ist Hanns-Josef Ortheils Mittelmeerreise ein Abenteuer. Denn die poetische Präzision, mit der der junge Ortheil seine Beobachtungen und Reflektionen verarbeitet hat, wirken wie ein Wahrnehmungsverstärker.
So schaut man nach dieser häufig auch amüsanten und immer berührenden Reiseerzählung nicht nur anders auf den scheinbar banalen Alltag, sondern gerät durch die Lektüre auf wundersame Weise in intensiven Kontakt mit der eigenen Kindheit und Jugend. Viel mehr an innerer Bewegung kann man von einem Stück Literatur eigentlich nicht erwarten.