"Die ganze Moderne sprang mich an"
Als 15-Jähriger machte Hanns-Josef Ortheil eine lange Schiffsreise nach Griechenland – eine Erfahrung, die ihn stark veränderte. Wie dies eine Reise in die Fremde und ins Erwachsenensein war, erzählt der Schriftsteller in einem ungewöhnlichen Buch.
Andrea Gerk: Von den Reisen, die er als Kind und Jugendlicher gemeinsam mit seinem Vater an die Mosel nach Berlin und Paris unternahm, hat der Schriftsteller Hanns-Josef Ortheil in erfolgreichen Büchern bereits erzählt. In seinem neuen Buch gehen die beiden, also Vater und Sohn, 1967 mit einem Frachter, der "Albireo", auf eine ausgedehnte Reise durchs Mittelmeer, von Antwerpen durch den Golf von Biskaya bis nach Istanbul. Ich bin jetzt mit Hanns-Josef Ortheil in einem Studio in Stuttgart verbunden.
Herr Ortheil, Sie waren ja damals 15, fast 16, als Sie auf diesen respekt- oder sogar angsteinflößenden Frachter gingen. Das beschreiben Sie anfangs ja sehr schön, wie aufgeregt und nervös Sie vor diesem Riesenschiff standen. Wie sind Sie und Ihr Vater denn überhaupt auf die Idee gekommen, mit einem Frachtschiff zu reisen?
Ortheil: Also wir wollten zum letzten Mal zusammen verreisen, und das sollte eine große Tour werden, die mehrere Kulturen in Europa bereist. Zug kam nicht so richtig infrage. Wir wollten sehr langsam fahren, und mein Vater kam dann auf die Idee, so ein Frachtschiff, das fährt nicht zu schnell, und wir haben da einen kleinen Raum, mit dem wir die Küste gut beobachten können, und wir fahren dann langsam durchs Mittelmeer auf Griechenland zu. Das war also das eigentliche Ziel, das antike Griechenland so als Studienraum. Ich war damals auf einem humanistischen Gymnasium, und mein Vater dachte, man muss nicht nur altgriechische Texte lesen, sondern auch das neue Griechenland sehen. Das hat sich eigentlich sehr gut bewahrheitet, weil die Reise wirklich sehr langsam war, Schritt für Schritt. Man lernte die Leute an Deck sehr gut kennen, die Besatzung. Vom Plan her hat sich das alles sehr gut erfüllt, was nicht vorgesehen war.
"Jeder hatte seine eigene Bockigkeit"
Gerk: Und dann haben Sie ja da ein richtiges Abenteuer erlebt. Da gibt es schwere Stürme, da beschreiben Sie auch die Seekrankheit – kann ich aus eigener Erfahrung bestätigen – wirklich extrem anschaulich. Dann gibt es eine Liebe zu einer jungen Griechin, es gibt philosophische Diskussionen mit der Besatzung, und Sie sind da so mittendrin als ein bisschen weltfremder angehender Pianist und Altgriechisch-Schüler, während woanders ja die jungen Leute auf die Straße gingen zu der Zeit, und Sie gingen dann aber ja auch ganz verändert von Bord. War denn diese Reise noch mal besonders im Vergleich zu denen davor, weil es auch eine Reise ins Erwachsensein war?
Ortheil: Also ganz bestimmt. Es lag auch viel daran, dass ich nicht nur die ganze Zeit, wie bei den früheren Reisen, mit dem Vater allein war meist, sondern eben mit einem größeren Ensemble, mit anderen Menschen täglich zu tun hatte, dem Kapitän, dem Ingenieur, sodass ich mich dauernd von morgens bis abends mit diesen Leuten auseinandersetzen musste. Die waren also sehr nett und angenehm, aber jeder hatte doch seine eigene Individualität und Bockigkeit und seine Züge und dann sein Wissen. Ich habe mich da sehr stark mit beschäftigt, also mit dem, was da aufgenommen wurde an Fremde. Ich selbst lebte doch, glaube ich, von heute aus zu sehen, in einer starken Kapsel, dadurch, dass ich eigentlich ganz stur aufs Pianistendasein zuwollte und gar nicht so die Moderne an mich heranließ, sondern durch das dauernde Üben viele Stunden am Tag so ein sehr auf mich konzentriertes, isoliertes Leben führte. Während dieser Reise sprang nun also diese ganze neue Moderne mich an, und das war das Aufregende und hat mich bestimmt völlig auf den Kopf gestellt, sodass ich, als ich da wieder von Deck ging und in Istanbul dann landete, ganz stark ein anderer war.
Eine andere Art von Autonomie
Gerk: Und diese Figuren, die Sie gerade schon angedeutet haben, die Besatzungsmitglieder, die sind ja wirklich großartig, könnte man in einem Roman wahrscheinlich kaum besser erfinden. Da gibt es den Ingenieur, der Schiffsmodelle nach dem Vorbild der griechischen Mythologie baut, oder der erste Offizier, der ist ja fast schon so eine Art Universalgenie. Also tatsächlich sehr romanhaft und literarisch. War Ihnen das damals schon gleich klar, als Sie es erlebt haben oder zumindest nachher beim Notieren?
Ortheil: Nein, überhaupt nicht. Damals empfand ich es als sehr aufregend, weil diese Leute wirklich eine große Selbstständigkeit haben mussten. Sie hatten eine große Verantwortung. Sie mussten auch viel einfach wissen. Also das Wissen wurde ihnen noch nicht von Maschinen oder von Computern abgenommen, sondern so durch einen schweren Sturm es zu schaffen mit 5.000 Bruttoregistertonnen beladenen Frachter, das erforderte eine Menge Kunst, eine Menge an nautischer Kunst und einfach eine Menge an Einfühlung. Das sah man diesen Leuten auch an. Die hatten eine gestandene Erfahrung und mit vielen Fahrten rund um die Erde erlebt und in sich. Das machte auf mich einen ganz enormen Eindruck, diese Autarkie, dass also jeder eigentlich selbstständig sich ein Leben zurechtlegte, auch ein Lebensprogramm, wo er hinwollte und warum er reiste. Diese andere Art von Selbständigkeit und Autonomie, die hat mir also sehr gefallen. Ich habe es jetzt gerade im Nachhinein, als ich die Texte dann wieder las, die ich damals geschrieben hatte, auch bemerkt, also von heute aus ist das auch noch ungeheuer beeindruckend, finde ich.
Gerk: Das fand ich auch, aber es entsteht auch eine gewisse Komik daraus, dass ja eigentlich alle Protagonisten, also auch Sie und Ihr Vater, irgendwie ganz ausgeprägte Experten für etwas sind und damit auch so eine gewisse Zwanghaftigkeit einhergeht, aber auch eine enorme Großzügigkeit dann wieder auf der anderen Seite. Woher kam das zum Beispiel bei Ihrem Vater, diese Mischung aus so einer extremen Akribie, mit der er dann mit so einer Leidenschaft da zeichnete und seine Wissensgebiete verfolgte, aber dann auch sowas ganz Lässiges hatte?
Ortheil: Ja, das war schön, dass er so war, wie er war. Also zum einen kommt diese Akribie natürlich von seinem Beruf her. Er war ja Vermessungsingenieur, und er hatte dann diese kauzige Idee während der Fahrt vom Frachter aus die Küste quasi zu vermessen. Also er hat dann riesige Blätter … eine kartografische Aktion war das Ganze, aber er verwandelte diese Aktion in das Zeichnen. Also er zeichnete dann immer das, was wir von der Küste mitbekamen. Die Felsen und die Häuser und die kleinen Dörfer an der Küste und verwandelte sich dadurch während der Reise eigentlich fast in einen Künstler. Die anderen Besatzungsmitglieder kamen und staunten, wie perfekt der zeichnen konnte, und ich glaube, das hat ihm selbst so imponiert, weil er das zum ersten Mal in seinem Leben machte, also sich so eine freie Zeit gönnte, um in Ruhe zu zeichnen und nicht nur dätisch zu zeichnen. Das absorbierte ihn, glaube ich, über allen anderen Problemen. Er ließ mich dann auch mit meinen eigenen relativ in Ruhe.
Verblüffende Funde im Familienarchiv
Gerk: Das ist auch so toll an diesem Text, dass da ja alle in gewisser Weise im Lauf der Reise immer wieder in so Ausnahmezustände geraten, die sie so sonst in ihrem Alltag ja wahrscheinlich in dem Ausmaß nicht hatten. Das haben Sie sehr gut eingefangen. Wir müssen vielleicht auch mal langsam sagen, dass das, was da steht, das haben Sie ja nicht jetzt aus der Erinnerung geschrieben, sondern das ist ja tatsächlich damals nach der Reise ... oder auch schon während der Reise haben Sie diese Notizen gemacht und darüber geschrieben und dann offenbar den Reisebericht Ihren Eltern auch zu Weihnachten geschenkt. Das ist ja schon außerordentlich. Wie ist das für Sie, wenn Sie diese Texte aus Ihrer Jugend, aus Ihrer Kindheit dann noch mal so anschauen aus so einer großen Distanz?
Ortheil: Es sind ja ganz unterschiedliche Texte, die mich sehr verblüfft haben, weil ich viele gar nicht mehr in Erinnerung hatte. Ich hatte eigentlich nur den Reisebericht in Erinnerung, den ich den Eltern dann geschenkt habe, und der bildet sozusagen das Rückgrat, also den durchlaufenden Text im Buch. Daneben fand ich aber sehr viele Texte aus meinen Tagebüchern, an die ich mich überhaupt nicht mehr erinnerte und die ich so für mich geschrieben hatte und die eigentlich nicht für die Eltern bestimmt waren. Ich traf dann zum Dritten noch auf Aufzeichnungen meines Vaters, von denen ich gar nichts wusste. Die lagen also alle, diese Texte, fein beieinander in dem Archiv meiner Eltern. Vor allem die privaten Texte, also diese Tagebuchsachen, die ich dann geschrieben habe, die haben mich doch sehr überrascht, wie genau ich beobachtet habe und immer so versucht habe, mich abzugrenzen und wieder einen Schritt auf andere zu, also wie reflektiert das alles ablief.
Drei große Erziehungsprogramme
Gerk: Und dieses genaue Beobachten, das wird ja auch im Text immer mal wieder erwähnt. Das hat Ihr Vater Ihnen ja beigebracht. Die Leser Ihrer Bücher, vor allem von "Die Erfindung des Lebens", wissen ja, dass Sie als Kind lange Jahre gar nicht gesprochen haben und Ihr Vater Sie so aus dieser Sprachlosigkeit auch befreit hat durch das Betrachten und Beschreiben der Welt. Ist das etwas, was Sie sich Ihr Leben lang ja offenbar auch bewahrt haben, da hat er Ihnen wirklich ein Lebensgeschenk gemacht, nicht?
Ortheil: Ja, ich habe sozusagen drei große Erziehungsprogramme von Seiten der Eltern her abbekommen, also als Ersatz für die, die ich in der Schule nicht mitbekam. Ich war ja in der Schule unendlich weit zurück oder überhaupt nicht vorhanden, also in der Volksschule. Das eine war das Sprechenlernen, einfach mal nur das Sprechenlernen. Das war das Grundprogramm, mich an die soziale Welt heranzuführen, dass ich teilnahm und endlich redete und diesen Mutismus überwand. Das Zweite natürlich das Schreibenlernen, was aber kein literarisches Schreiben sein sollte, sondern einfach ein Beobachten und genau auf Dinge eingehen, damit ich sie behielt, damit ich sie im Kopf behielt und nicht gleich wieder vergaß. Das dritte Programm war schließlich das Klavierprogramm, das von meiner Mutter her kam, also damit ich auch ein Ausdrucksmittel hatte, ein emotionales Ausdrucksmittel, wurde ich mit dem Klavier in Kontakt gebracht und lernte das sehr gern und intensiv.
Gerk: Jetzt in jüngster Zeit wurde viel über autofiktionales Schreiben diskutiert, als ob das sowas ganz Neues wäre und gar keine Tradition der Bekenntnisliteratur gäbe. Sie machen das ja schon immer eigentlich, dass Sie über Ihr Leben auch schreiben. Wie verfolgen Sie denn solche Debatten, wie denken Sie darüber?
Ortheil: Also ich glaube, dass es in der deutschen Literatur relativ fremd in der Geschichte gewesen ist, sich so bekennerisch zu äußern und so stark autobiografisch. Das hatte immer einen Geruch von Narzissmus und Selbstbespiegelung. Das hat man im Deutschen nicht gern, vor allem nicht im protestantischen Norden. Das spielt eine große Rolle in Frankreich. Also in Frankreich ist das das Urelement der Literatur. Das geht in der Moderne von Montaigne aus, und fast alle großen französischen Autoren haben in diesem Sinn bekennerisch-autobiografisch, zumindest einige Texte, geschrieben, wenn nicht das ganze Werk autobiografisch niedergelegt. Das hat da eine ganz andere Tradition, und bei uns hatte es immer so etwas Anrüchiges, von Selbstbespiegelung, aber ich glaube, dass es bei mir daher kommt, dass ich auch aus dieser französischen Tradition großgeworden bin. Also Familie kam aus Frankreich, und meine Eltern haben viel Französisch miteinander gesprochen, wenn sie allein waren oder wenn sie sich intimer verständigen wollten. Also ich bin, glaube ich, stärker durch diese französische Tradition geprägt als durch deutsche Tradition.
"Mit 18 muss man das Fremde kennenlernen"
Gerk: Und ist denn das auch etwas, was Sie Ihren Studenten – Sie unterrichten ja auch und haben das miterfunden, den Studiengang für kreatives Schreiben in Hildesheim – nahelegen, sich erst mal selbst anzuschauen und auch das in so einer vielleicht sogar täglichen Praxis mal zu üben?
Ortheil: Nein, ganz im Gegenteil.
Gerk: Ah ja!
Ortheil: Mit den Studierenden arbeite ich eigentlich wirklich so, dass ich eher sozusagen die Hemingway-Variante mit denen durchspiele, also nach draußen gehen, fremde Welten erkunden und darüber berichten, also die möglichst genau zu beschreiben. Eigentlich arbeite ich mit denen dann so wie mein Vater mit mir gearbeitet hat, der ja auch nicht wollte, dass ich über mich selbst schreibe, sondern dass ich Erfahrungen mache, dass ich mir die Welt anschaue, dass ich die Bäume benenne, die ich sehe und so weiter. Dieses Programm habe ich relativ genau auf das Studium in Hildesheim übertragen, auch so immer im Modus der Exkursion mit den Studierenden umgegangen, also nach draußen in irgendwelche fremden Zonen, die sie nicht kannten, oder weite Fahrten gemacht und dann die Fremde versucht zu studieren, fast ethnografisch, weil ich immer dachte, wenn man so 18 bis 22 ist, dann muss man das Fremde zuerst mal kennenlernen und auch abgelenkt werden vom Eigenen. Also zum Eigenen kommt man dann schon irgendwann wieder zurück, aber zuerst mal auch Interesse an fremden Themen haben und die sich aufschließen und erobern.
Gerk: Hanns-Josef Ortheil, vielen Dank für dieses Gespräch!
Ortheil: Ja, bitte sehr!
Gerk: "Die Mittelmeerreise" von Hanns-Josef Ortheil ist beim Luchterhand Verlag erschienen, hat 640 Seiten und kostet 24 Euro.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.