Hans Fallada: "Ohne Euch wäre ich aufgesessen. Geschwisterbriefe"
Aufbau Verlag, Berlin 2018, 473 Seiten, 26 Euro
Trost und Zuspruch aus den Zeilen
Hans Fallada arbeitete nicht nur als Autor ausgesprochen produktiv, sondern war auch ein intensiver Briefeschreiber. Zu seinen wichtigsten Adressaten gehörte dabei seine Familie. Die nun publizierten Briefe offenbaren die lebenslange Haltlosigkeit Falladas.
Bei der Archivierung seiner Korrespondenz war Hans Fallada ein Pedant. "Ich mache mit Riesenmut überall Ordnung, lege ab, registriere", schreibt er 1933 an seine Schwester Elisabeth, "und feiere Orgien der Pedanterie". Fallada war ein fleißiger Briefeschreiber, es sind mehrere Zehntausend Seiten, die sich dank seiner Gründlichkeit heute im Hans-Fallada-Archiv Neubrandenburg finden, das meiste davon unveröffentlicht. Erzählte der vor neun Jahren publizierte Briefwechsel mit seiner Frau Anna von ihrer großen gescheiterten Liebe in Zeiten des Krieges, gibt nun die Auswahl der jetzt erscheinenden Geschwisterbriefe einen weiteren, sehr privaten Fallada preis: Einen getriebenen Schriftsteller, der vor seinen Schwestern die Sehnsucht nach Halt, nach der Mitte, die ihm immer fehlte, nie verschweigt.
Sei sollten es noch einmal mit ihm versuchen
Der Auftakt ist berührend: In seinem Weihnachtsbrief 1928 bittet Rudolf Ditzen, alias Hans Fallada, seine Lieblingsschwester "Ibeth": " wenn auch noch nicht zu vergeben und zu vergessen, mir doch noch ein letztes Mal eine Möglichkeit zu geben." Ein nackter, ehrlicher Ton, fast unterwürfig wünscht er sich von seinen Schwestern Elisabeth und Margarete, es "noch einmal mit ihm zu versuchen". Nach fast zwei Jahren im Zentralgefängnis Neumünster, er hatte Geld für seine Alkohol- und Morphiumsucht veruntreut, kämpft Fallada, will ein neues, anderes Leben, ist fest entschlossen, ein großer Schriftsteller zu werden, schlägt sich zunächst als Abonnentenwerber beim "Generalanzeiger" durch, lernt seine große Liebe Anna kennen – und zum Glück auf einer Sylt-Reise den Verleger Ernst Rowohlt. Von all dem erfahren die zwei Schwestern als erste, fast 20 Jahre lang, bis zum letzten Brief an Weihnachten 1946 bricht der regelmäßige innige Kontakt nicht mehr ab.
Von unvermeidlichem Hofjungenärger und einem klopfenden Herzen
"Ohne Euch wäre ich aufgesessen" sind die Geschwisterbriefe betitelt – und in ihnen ist alles drin: Trost und Zuspruch der Schwestern - und das wilde, untröstliche Leben Falladas als Direktpaket. Die Verwandten sind die ersten, leidenschaftlichen Leser seiner Romane, sie durchleben seine Erfolge und Misserfolge, sie teilen seinen Großmut bei den alltäglichen Erziehungsproblemen seiner Kinder Uli, Lore und Achim – wieviel Liebe Falladas steckt allein in diesen kleinen Familienporträts. Die Schwestern ertragen aber ebenso dessen Tobsuchtsanfälle, ermuntern ihn bei seinen Schreibhemmungen oder Roman-"Schlussängsten". Ein besessener Autor wird spürbar in den Briefen, Falladas Hetzjagd des Schreibens, wie er in gerade einmal fünf Monaten 1932 seinen späteren Welterfolg "Kleiner Mann, was nun" niederschreibt.
All das liest sich atemlos, getriebenen, wenn er davon berichtet, am Abend des Abgabetags seines Manuskripts "zur Erholung einen neuen Roman" zu beginnen. Dazwischen immer wieder die schweren körperlichen Abstürze und Klinikaufenthalte, die er vor den Schwestern als "kleinen Nervenkollaps" kleinredet - und sich eher selbstironisch einen "Halbtoten" nennt. Selten genug spricht Fallada in den Briefen seine Depression direkt an, ist erfindungsreich in Euphemismen: "unvermeidlichen Hofjungenärger" nennt er seine maßlosen Erregungszustände. Aber das "Herz muss mitklopfen", schreibt er April 1935, "das Herz muss mit dabei sein, sonst ist alles Schiet".
Anschreiben gegen die lebenslange Haltlosigkeit
Unbestritten ergeben die Briefe auch ein Zeitbild, wenn auch ein sehr privates, aus dem abgelegenen mecklenburgischen Carwitz, wo Fallada zwischen Literatur und Landwirtschaft hantiert. Sie spiegeln rund 20 Jahre deutscher Geschichte, während der dreißiger Jahre und des Zweiten Weltkriegs – auch wenn von Politik selten direkt die Rede ist. Wenig liest man von den dramatischen Entwicklungen 1944 - nach Falladas erneuten Alkohol- und Drogenexzessen und seiner Inhaftierung, nachdem er im Streit mit seiner Frau einen Schuss aus der Waffe abgab.
Allein von der Scheidung berichtet Fallada schuldbewusst seinen Schwestern. Die zwingende Ausweglosigkeit, die ab den ersten Briefen mitschwingt, zeigt sich nun nackt: "Was soll ich noch?" fragt Fallada in einem seiner letzten Briefe an seine Schwester Elisabeth, "Niemand scheint mich mehr zu brauchen. Der Traum, ein großer Künstler zu werden, ist ausgeträumt." Das Bewegende an diesem Geschwisterbriefwechsel ist, mit wieviel Kraft und Eifer Hans Fallada gegen seine lebenslange Haltlosigkeit angeschrieben hat.