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„An der Aufklärung kommen wir nicht vorbei“
55:18 Minuten
Als Komponist und Schriftsteller, Sozial- und Wirtschaftshistoriker war Hans G Helms vor allem Ideologiekritiker. Mit analytischem Blick spürte er Entsprechungen zwischen gesellschaftlichen und ästhetischen Entwicklungen auf.
Zur Jahrtausendwende hatten wir verschiedene Komponisten gebeten, eine Auswahl von Stücken zusammenzustellen und unter dem Stichwort "Musikalische Strategien für eine Musik des 21. Jahrhunderts" zu kommentieren.
Das Ziel war eine sehr persönliche Bestandsaufnahme, die den Stand der Reflexion des Komponierens in der Auseinandersetzung mit Gegenwart spiegelt.
In dem Gespräch aus dem Jahr 1999 zeigt Hans G Helms wie sich schon in der Musik des 19. Jahrhunderts musikalische Verfahrensweisen etablieren, die erst im 20. Jahrhunderts voll zu Bewusstsein kommen.
Bei Berlioz hebt er Masseeffekte hervor, die die Erfahrung von industrieller Massenproduktion des 20. Jahrhunderts vorwegnehmen, bei Puccini bewundert er den Umgang mit Sprache, und die Neue Musik ab 1950 beschreibt er als den Versuch, sich gegen die ökonomische Vereinnahmung zur Wehr zu setzen und Modelle zu finden, die sich nicht ohne weiteres vermarkten lassen.
Historisches Bewusstsein
Als Historiker pflegte Hans G Helms (1932-2012) bei den Ursprüngen der jeweiligen Entwicklungen anzusetzen. Ihm ging es darum, Strukturen, Modelle und Techniken herauszuarbeiten, um sie als Ressource für künftige Zeiten nutzen zu können.
"Die ganze politökonomische Entwicklung, seit Beginn der Industrialisierung", so Helms, "ist ein ungeheuer langwieriger Prozess. Und wenn man in die Zukunft hineinschauen will, muss man so weit zurückgehen, denn sonst hat man keine Perspektive, die man entfalten kann. Das ist vielleicht der Vorteil eines Wirtschaftshistorikers – das bin ich ja eigentlich –, der eben gewohnt ist, die Dinge so zu betrachten und nicht sich von irgendwelchen schnelllebigen Produkten überrennen lassen"
Kunst als Ideologiekritik
Als wichtigste und nachhaltigste Lehrer nannte Helms den amerikanischen Linguisten Roman Jacobson, den Frankfurter Philosophen und Sozialwissenschaftler Theodor W. Adorno und den in Ostberlin arbeitenden Wirtschaftshistoriker Jürgen Kuczynski. Sie waren die Impulsgeber für die Querverbindungen seines wissenschaftlichen und künstlerischen Radius‘.
Bereits seit Ende der 50er Jahre hatte sich Hans G Helms immer wieder mit der Frage nach dem Verhältnis von Sprache und Musik befasst.
1960 publizierte er ein Werk, dass trotz seiner Ungewöhnlichkeit und Hermetik zu einem Markstein Neuer Musik und Neuer Literatur wurde. Fa:m’ Ahniesgswow, so der merkwürdige Titel, ist weder Poesie noch Prosa, hat keine chronologische Handlung, wohl aber ein Handlungsskelett aus verschiedenartigen unabhängigen gesellschaftlichen Situationen.
Das multimediale Kunstwerk besteht aus fünf Strukturen. Sie umfassen mehrere separate Texte, die in der akustischen Realisation an einigen Stellen in weitere Texte münden, die aus der Überlagerung der Einzeltexte entstanden sind.
Das akustische Ergebnis erinnert durchaus an Musik. Denn die künstlerische Verfahrensweise ist in vieler Hinsicht mehr die eines Komponisten als die eines Schriftstellers.
Das akustische Ergebnis erinnert durchaus an Musik. Denn die künstlerische Verfahrensweise ist in vieler Hinsicht mehr die eines Komponisten als die eines Schriftstellers.
(nau)
Vor 20 Jahren
Kompositorische Strategien für eine Musik des 21. Jahrhunderts
Hans G Helms im Gespräch mit Carolin Naujocks
Mit Kompositionen von
Charles Ives
Hector Berlioz
Gustav Mahler
Giacomo Puccini
José Luis de Delás
Hans G Helms
Produktion: Deutschlandradio Berlin 1999