Ina Schmidt, Jg. 1973, ist Kulturwissenschaftlerin mit Schwerpunkt Kulturphilosophie und Autorin philosophischer Sach- und Kinderbücher. 2005 gründete sie die „denkraeume“, eine Initiative, um philosophische Themen in die gesellschaftliche Lebenswelt zu übersetzen. Schmidt engagiert sich in Bildungsprojekten mit Kindern und Jugendlichen, um das Philosophieren als kulturelle Praxis zur politischen Bildung bereits in der Grundschule einzuführen.
Verantwortung nach Hans Jonas
Mit jeder Entscheidung geht auch Verantwortung einher, sagt die Philosophin Ina Schmidt. © imago / Ikon Images / Alice Mollon
Wir brauchen ethische Nachhaltigkeit
Der Philosoph Hans Jonas verstand Verantwortung als eine soziale Praxis, zu der alle Menschen in der Lage sind. Verantwortung heißt nicht, dass wir alles immer richtig machen müssen, sagt Ina Schmidt. Aber wir müssen die Folgen unseres Handelns bedenken.
Schon morgens beim Bäcker geht es los. Ich habe den Baumwollbeutel vergessen, den ich für meine vier Brötchen über die Theke reichen wollte, um die Papiertüte einzusparen. Vor dem Gemüseregal im Supermarkt bin ich unschlüssig, ob Biogemüse aus Spanien oder lieber die regionale Alternative die bessere Wahl wäre.
An der Käsetheke höre ich, wie sich zwei junge Frauen überlegen, ob sie im Büro eigentlich weiter Maske tragen sollten, oder eher nicht und die Schlagzeilen im Zeitschriftenregal fragen, ob Waffenlieferungen wirklich für Frieden sorgen können. Egal wo: Es gilt Haltung anzunehmen, eine Position zu haben und – in all dem Verantwortung zu übernehmen.
Verantwortung als soziale Praxis
Als Konsument, Kollegin, und natürlich als politischer Entscheidungsträger. Aber was genau heißt das eigentlich? Der Philosoph Hans Jonas versteht Verantwortung als eine soziale Praxis, zu der wir als Menschen begabt und in der Lage sind, schlicht, weil wir auf Fragen, Aufrufe und Konflikte auf Basis von guten Gründen zu antworten imstande sind.
Das klingt fast banal, aber wenn wir nicht jede schnell hingeworfene Antwort als Akt der Verantwortung gelten lassen, sondern Abwägungen und Begründungen einfordern, dann ist es alles andere als das.
Wie also antworten auf die Fragen, die unsere Gegenwart gerade auf existenzielle Weise an uns richtet? Wie ernst nehmen wir ganz persönlich die Aufgabe, eine Antwort zu finden – vor dem Supermarktregal, im Gespräch mit Kollegen oder bei der Diskussion mit den Schwiegereltern über den Verlauf des Krieges?
Man muss nicht die Lösung kennen
Hier beginnt das, was Hans Jonas mit einer „sozialen Praxis“ meint. Verantwortung zu übernehmen bedeutet nicht, die Lösung zu kennen, alles richtig zu machen und Ergebnisse produzieren, sondern sie beginnt sehr viel früher bei dem inneren Entschluss, den eigenen Gründen auf die Spur zu kommen, das eigene Warum und seine Grenzen zu kennen, bevor es im Gespräch mit anderen zum Ausdruck und zur Grundlage einer Handlung wird.
Aber sie geht gleichzeitig so weit, dass sie sich im Angesicht der dringlichen Veränderungen um ethische Nachhaltigkeit bemüht, sodass wir nicht nur unsere Fragen beantworten, sondern dafür sorgen, dass auch zukünftige Generationen dazu noch in der Lage sein können. Damit hat jede verantwortliche Praxis die Aufgabe, das eigene freiwillige Handeln zu rechtfertigen und die Folgen so weit zu berücksichtigen, wie wir als Handelnde dazu imstande sein können.
Etwas zu lassen, statt etwas zu tun
Das funktioniert nicht immer und nicht in jeder Situation, aber gerade deswegen bedeutet Verantwortung eben auch, hin und wieder etwas zu lassen, statt etwas zu tun. Und zwar in der Annahme, damit für etwas Größeres einzutreten als das eigene Wohlbefinden, den eigenen Vorteil oder Profit. Liegt darin naiver Idealismus oder die einzige Möglichkeit, in all den zu treffenden Entscheidungen einen eigenen Kompass beizubehalten, der bereit ist, weiter daran zu glauben, dass die Welt im Grunde gut gemeint sein kann?
Diese Antwort können wir uns nur selbst geben. Hans Jonas hat bis in die 90er-Jahre daran geglaubt, dass jeder von uns dazu fähig ist, die Verantwortung zu wählen, und dies als eine eigene Pflicht im Sinne einer gemeinschaftlichen Aufgabe anzuerkennen, auch wenn darin eine Beschränkung unserer Freiheit liegen mag. Es wäre interessant herauszufinden, ob er heute noch immer an dieser Hoffnung festhalten würde.