Hans Magnus Enzensberger: "Tumult"
Suhrkamp Verlag, Berlin 2014
287 Seiten, 21,95 Euro
Eine Autobiografie als Kabinettstück
Nach einem Zufallsfund in seinem Keller tritt der inzwischen 85-jährige Hans Magnus Enzensberger in Dialog mit dem jungen Enzensberger aus den 60er-Jahren. Die Autobiografie "Tumult" bietet ein lustvolles Spiel mit dem Leser.
Hans Magnus Enzensberger hat sich immer getarnt. Er ist nie zu fassen gewesen. Alle seine Spuren – den Angry Young Man, den Revoluzzer, den intellektuellen Perlgeist – hat er immer sofort wieder verwischt. Wenn er nun eine Autobiografie schreibt, muss man auf allerhand gefasst sein.
"Tumult" fungiert als Titel und Gattungsbezeichnung zugleich. Auslöser dieser Aufzeichnungen sei ein Zufallsfund im Keller gewesen, teilt der Autor mit, längst vergessene "Sudelhefte und Mappen" aus den tumultuösen frühen Jahren. Mit dieser Rahmenerzählung knüpft Enzensberger augenzwinkernd an frühere Gepflogenheiten an, als ein unschuldiger Erzähler oft auf Schriften eines geheimnisvollen Unbekannten stieß und diese dann herausgab.
"Standards der Dokumentation oder gar der Philologie", so der Autor, habe er nicht in erster Linie im Auge gehabt. Im zentralen Kapitel stehen sich in Rede und Gegenrede der junge und der alte Enzensberger gegenüber. Der mittlerweile 85-Jährige befragt den ihm fremd gewordenen Sudelheft- und Mappenkritzler aus den 60er-Jahren. Und das ist vor allem ein lustvolles Spiel mit den Erwartungshaltungen des Lesers. Der Jüngere erklärt programmatisch:
"Wie oft soll ich dir noch einbläuen, was ein Tumult ist? Als Buchhalter unserer Vergangenheit bin ich eine Fehlbesetzung."
Eine Art linker Felix Krull
Schauplätze, die in einzelnen Traumsequenzen angeflogen und rasch wieder überblendet werden, sind der Oslofjord in Norwegen, wo Enzensberger jahrelang mit seiner ersten Frau Dagrun lebte, Moskau, wo er 1966 seine zweite Frau Mascha kennenlernte, das Berlin der antiautoritären Bewegung, aber vor allem auch Indien, Kuba, Tahiti, Australien, Kambodscha und diverse europäische Hauptstädte. Es entsteht ein Sog, in den der Leser hineingezogen wird.
Dass der "fliegende Robert" aus dem "Struwwelpeter" Enzensbergers Lieblingsfigur ist, leuchtet angesichts dieser rasanten Szenenfolge ein. In vielen Momenten stecken ganze Erzählungen, kleine Romane, verwickelte Theateraufführungen.
Enzensberger zeigt sich als eine Art linken Felix Krull, der ganz selbstverständlich die Suiten der Mächtigen bewohnt und als literarische Figur an den aberwitzigen Wendungen der Geschichte teilhat. Und er legt großen Wert auf die Distanz zu den deutschen 68ern.
Ein Höhepunkt dieses funkenschlagenden Buches ist der "russische Roman", der zum ersten Mal in seiner ganzen Dramatik erkennbar wird. Die zweite Ehe des Autors mit einer um 13 Jahre jüngeren, 23-jährigen Sowjetrussin stellt sich als eine spektakuläre Amour fou dar, die durch die jetzt lancierten Andeutungen Enzensbergers das Zeug zu einem wahren Polit- und Liebesthriller hat.
Und zum Schluss fügt Enzensberger noch einige poetische Kurzprosaskizzen an, die ihn auf der Höhe seiner Kunst zeigen, seiner Verbergungs- und Enthüllungskunst genauso wie seiner Fähigkeit zur Verdichtung. Dieses Buch ist ein einziges Kabinettstück.