Hans Magnus Enzensberger: "Fallobst. Nur ein Notizbuch"
Suhrkamp Verlag, Berlin 2019
368 Seiten, 30 Euro
Lust an der Polemik
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Seine scharfsinnigen Essays und Gedichte haben die Entwicklung der Bundesrepublik begleitet. Zum 90. Geburtstag von Hans Magnus Enzensberger erscheinen zwei Bücher: "Fallobst" und "Louisiana Story". Sie zeigen den intellektuellen Kopf in Bestform.
"Ein wenig Grazie wäre mir schon genug": Mit diesem Bekenntnis zu einer fast ausgestorbenen Form des Schönen hat Hans Magnus Enzensberger einmal die Poetik seines Spätwerks skizziert. Die leichte, fast schwerelose Grazie, verbunden mit der Kunst der skeptischen Selbstbegrenzung, ist zum Erkennungsmerkmal dieses Ausnahmeschriftstellers geworden, der seit über sechzig Jahren die Entwicklung der Bundesrepublik mit scharfsinnigen Essays und geschmeidigen ironischen Gedichten begleitet. Seit seinem legendären Lyrikdebüt "verteidigung der wölfe" von 1957 war ein Enzensberger-Buch immer eine Garantie für ein Höchstmaß an intellektuellem Vergnügen.
Dabei hat der "Fliegende Robert" der Poesie, als der er sich 1980 im Gedichtband "Die Furie des Verschwindens" outete, im Laufe der Jahre eine hohe Kunst darin entwickelt, alle politischen und ästhetischen Heilsgewissheiten hinter sich zu lassen und stattdessen in demonstrativer Gelassenheit die "Verteidigung der Normalität" zu propagieren.
Herbe Polemiken
Selbst im zarten Alter von 90 Jahren vermag nun dieser circensische Poet noch eine Überraschung aus dem Hut zu zaubern. Sein jüngstes Werk hat er im gewohnten Understatement als "Fallobst" annonciert, als eine Sammlung von Notizen und beiläufigen Aufzeichnungen, von Glossen und Präliminarien, eine Art Nachlass zu Lebzeiten auf 380 Seiten. Der Untertitel kündigt bescheiden "nur ein Notizbuch" an. Aber wer diese in drei "Körben" gesammelten Prosaminiaturen studiert, erlebt einen Enzensberger in Bestform.
Diese Mini-Novellen, Vignetten und Aphorismen, flankiert mit Zitaten von Enzensbergers Lieblingsautoren Michel de Montaigne, Denis Diderot oder Blaise Pascal, sind überaus sorgfältig komponiert. Ältere Stücke aus Katalogtexten werden sehr subtil mit Meditationen zur Mentalitätsgeschichte der Bundesrepublik, mit kompakten Autoren-Porträts, mit launigen Grillen zu den neuesten Erkenntnissen der Physik und mit herben Polemiken gegen die bedrohliche Übermacht der Internet-Konzerne verknüpft. Nicht alle dieser Prosa-Etüden sind kleine Meisterwerke. In einigen erteilt sich der Autor nur die Lizenz zum argumentfreien Abräumen lästiger Phänomene wie den technischen Begleiterscheinungen des Smartphone-Zeitalters. Aber es überwiegen die stilistischen fein geschliffenen Stücke, in denen der Autor auch sein Älterwerden ironisiert: "Jetzt gleiche ich einem Autoreifen, aus dem langsam die Luft entweicht."
Verpflichtung zur Universalität
Die Denkschule, mit deren Hilfe Enzensberger als staunender Zeitgenosse unsere Gegenwart erkundet, ist die Etymologie. Ein Blick auf die Herkunftsgeschichte der gerade angesagten Reizwörter und Redewendungen genügt ihm, um die Besinnungslosigkeit unserer erhitzten Gegenwarts-Diskurse bloßzulegen. Eine spracharchäologische Methode, die er auch in einem Frühwerk aus dem Jahr 1957 anwendet, der kleinen Erzählung "Louisiana Story", die der Carl Hanser Verlag zum Geburtstag des Dichters unter seinem Pseudonym Andreas Thalmayr veröffentlicht hat. Die mit fantastischen Illustrationen von Hannes Binder intensivierte Geschichte ist das Ergebnis einer USA-Reise Enzensbergers, die ihn auch in den tiefen Süden führte, ins Mississippi-Delta und die Stadt New Orleans, die 1957 noch von einem brachialen Rassismus geprägt war. Der junge Enzensberger agiert hier mehr als Ethnograph denn als Polemiker. Der USA-Kritiker tritt dann erst im von ihm 1965 begründeten "Kursbuch" auf – und diese Lust an Polemik verdrängt selbst noch in "Fallobst" mitunter den entspannten Stoiker und Spezialisten für intellektuelle Heiterkeit.
In seine funkelnden "Fallobst"-Notate hat Enzensberger auch kleine autobiographische Kassiber eingeschmuggelt. In einem Lebenslauf für die Studienstiftung des deutschen Volkes, den der am 11. November 1929 in Kaufbeuren geborene Enzensberger 1951 anfertigte, ist beispielsweise ein ambitioniertes Wunschprogramm eingetragen, an das noch der 90-Jährige locker anknüpfen kann: "Reines Spezialistentum kam für mich … nicht in Betracht. Auch wenn enzyklopädisches Wissen nicht mehr möglich ist, bleibt die Verpflichtung zur Universalität bestehen." Dass der intellektuelle Artist Hans Magnus Enzensberger an dieser "Verpflichtung zur Universalität" zeitlebens festgehalten hat, stellt seine elegante "Fallobst"-Prosa eindrucksvoll unter Beweis.
Andreas Thalmayr alias Hans Magnus Enzensberger: "Louisiana Story"
Mit Illustrationen von Hannes Binder
Hanser Verlag, München 2019
80 Seiten, 19 Euro