Hans Magnus Enzensberger: Überlebenskünstler. 99 literarische Vignetten aus dem 20. Jahrhundert
Suhrkamp Verlag, Berlin 2018
361 Seiten, 24 Euro
Mit Lakonie und Zärtlichkeit
Hans Magnus Enzensbergers präsentiert "Überlebenskünstler in 99 literarischen Vignetten" - ein Hohelied auf die Literatur, das gleichwohl auf den hohen Pathos-Ton verzichtet. Das Erkenntnisvergnügen für den Leser ist enorm.
"Bei Vignetten", schreibt Hans Magnus Enzensberger im Vorwort zu seinem Buch "Überlebenskünstler", "wird das Bild zu den Rändern hin unschärfer und verschwindet allmählich im Hintergrund". Das im 19. Jahrhundert als Variante der Porträtmalerei beliebte Genre belebt er neu: Aus Miniaturgemälden werden Miniaturessays. Ähnliches war Enzensberger bereits in seinen konzisen Kürzest-Biografien gelungen, die sich 1960 auf den letzten Seiten des von ihm herausgegebenen "Museums der modernen Poesie" fanden. Und jetzt, beinahe sechs Jahrzehnte später, jedoch mit der gleichen intellektuellen und ästhetischen Neugier, mit dem gleichen Sinn für das Wesentliche und bei fortgesetzter Abwesenheit feinziselierter Würdigungs-Phrasen: 99 Vignetten, die sich "Überlebenskünstlern" des 20. Jahrhunderts widmen.
Obwohl Enzensberger weder seine lebenslangen Präferenzen noch seine Idiosynkrasien verbirgt, sind die hier auf jeweils anderthalb Druckseiten porträtierten Schriftsteller und Schriftstellerinnen keineswegs Varianten seines "Fliegenden Robert", der im gleichnamigen, berühmt gewordenen Gedicht vor allem Eskapismus lebt. Nicht zufällig zitiert Enzensberger aus einem Gedicht des 1924 in Würzburg geborenen und später nach Israel emigrierten Lyrikers Jehuda Amichai, in dem es heißt: "An dem Ort, an dem wir recht haben,/ werden niemals Blumen wachsen."
Obwohl Enzensberger weder seine lebenslangen Präferenzen noch seine Idiosynkrasien verbirgt, sind die hier auf jeweils anderthalb Druckseiten porträtierten Schriftsteller und Schriftstellerinnen keineswegs Varianten seines "Fliegenden Robert", der im gleichnamigen, berühmt gewordenen Gedicht vor allem Eskapismus lebt. Nicht zufällig zitiert Enzensberger aus einem Gedicht des 1924 in Würzburg geborenen und später nach Israel emigrierten Lyrikers Jehuda Amichai, in dem es heißt: "An dem Ort, an dem wir recht haben,/ werden niemals Blumen wachsen."
Von Raymond Queneau bis Octavio Paz
Die Rechthaber der Literaturgeschichte sind ihm ein arger Graus: der selbsternannte Surrealisten-Papst André Breton, der Franco-Parteigänger Camilo José Cela und der Stalin-Huldiger Johannes R. Becher, der egomane Elias Canetti ("Die Blendung ist quälend weitschweifig und erschreckend monoton") oder der geschwätzige Henry Miller ("er hat seine Lesefrüchte zu einem Eintopf verrührt, der selbst dem stärksten Magen aufstoßen würde"). Enzensbergers Lieblinge sind vor allem Stilisten, die das 20. Jahrhundert als ideologie-resistente Zivilisten überlebten: der verspielte Raymond Queneau, Ilse Aichinger und Hans Sahl, die bewunderten Czeslaw Milosz und Octavio Paz, sein guter Freund Ryszard Kapuscinski, der gänzlich unprätentiöse Imre Kertész oder der ägyptische Romancier Nagib Mafuz, der mit einem Satz zitiert wird: "Ein wenig Metaphysik braucht der Mensch, aber die Mystik ist eine Fata Morgana."
Was aber macht so unterschiedliche Autoren allesamt zu "Überlebenskünstlern"? Enzensberger verwendet den Begriff durchaus neutral und erinnert im Vorwort daran, dass jeder von ihnen ein ereignisreiches, oft durch Krieg und Flucht geprägtes 20. Jahrhundertleben erlebt und für sich unterschiedliche Konsequenzen gezogen hatte, die mit den Vokabeln "Held oder Verräter, Altruist oder Opportunist" keinesfalls hinreichend zu beschreiben sind. Seine Porträtgalerie soll also weniger werten als vielmehr erinnern.
Viele der Autoren hat Enzensberger noch persönlich erlebt wie etwa den die damalige Nachkriegsjugend begeisternden André Gide oder den als ausgesprochen sympathisch wahrgenommenen Carl Zuckmayer, andere hat er übersetzt oder mit ihnen Freundschaft geschlossen "auf irgendwelchen Podien, Festivals und überflüssigen Kongressen". Dennoch: hier kramt kein 89-jähriger im Anekdotenkästchen. Hans Magnus Enzensberger hat sich - welch ein Lesevergnügen!- auch im hohen Alter den Sinn für Widerhaken erhalten. ("´Warum sprichst du so leise?´, fragte ich Heiner Müller. `Weil ich jedem etwas anderes erzähle.`")
Was aber macht so unterschiedliche Autoren allesamt zu "Überlebenskünstlern"? Enzensberger verwendet den Begriff durchaus neutral und erinnert im Vorwort daran, dass jeder von ihnen ein ereignisreiches, oft durch Krieg und Flucht geprägtes 20. Jahrhundertleben erlebt und für sich unterschiedliche Konsequenzen gezogen hatte, die mit den Vokabeln "Held oder Verräter, Altruist oder Opportunist" keinesfalls hinreichend zu beschreiben sind. Seine Porträtgalerie soll also weniger werten als vielmehr erinnern.
Viele der Autoren hat Enzensberger noch persönlich erlebt wie etwa den die damalige Nachkriegsjugend begeisternden André Gide oder den als ausgesprochen sympathisch wahrgenommenen Carl Zuckmayer, andere hat er übersetzt oder mit ihnen Freundschaft geschlossen "auf irgendwelchen Podien, Festivals und überflüssigen Kongressen". Dennoch: hier kramt kein 89-jähriger im Anekdotenkästchen. Hans Magnus Enzensberger hat sich - welch ein Lesevergnügen!- auch im hohen Alter den Sinn für Widerhaken erhalten. ("´Warum sprichst du so leise?´, fragte ich Heiner Müller. `Weil ich jedem etwas anderes erzähle.`")
Empathie ohne Pathos
Gerade ein so flexibler Geist wie Enzensberger macht jedoch kein Hehl aus seiner Bewunderung für diejenigen, die eben nicht jedem etwas anderes erzählten: Nelly Sachs, die er als ganz junger Mann in Stockholm besuchte, Ossip Mandelstams Witwe Nadeschda, die in ihrer Autobiografie "Das Jahrhundert der Wölfe" von existentieller (und oft genug scheiternder) Überlebenskunst Bericht gab, oder die dem körper- und geisttötenden Sowjetimperium ästhetisch und ethisch widerstehenden Dichter Joseph Brodsky und Anna Achmatowa. Es ist, vielleicht sogar etwas überraschend, eine große Zärtlichkeit in diesem Buch, eine Empathie, die kein Pathos braucht. So heißt es am Schluß der Vignette über Erich Kästner ebenso lapidar wie berührend: " Ich komme manchmal an seinem Grab auf dem Bogenhausener Friedhof vorbei. Dort ruht er zwischen Annette Kolb, Liesl Karlstadt und Oskar Maria Graf." Was für ein Hommage, was für ein Buch!