Hans Pleschinski: "Wiesenstein"

Weltfernes Genie in einer untergehenden Welt

Buchcover Hans Pleschinski: "Wiesenstein"
In seinem Anwesen Wiesenstein zieht sich Hauptmann 1945 zurück. © C.H. Beck / picture-alliance / dpa
Von Katharina Döbler |
März 1945: Gerhart Hauptmann reist von Dresden zurück nach Schlesien. In seinem Anwesen Wiesenstein will er sein luxuriöses Leben fortsetzen. Es ist ein Leben zwischen legendärer Selbstgewissheit und moralischen Zweifeln, das Hans Pleschinski in seinem Roman aufrollt.
Nach Thomas Mann nun also Gerhart Hauptmann: Nach dem vielgepriesenen Roman "Königsallee" hat Hans Pleschinski sich nun den anderen deutschen Großschriftsteller des frühen 20. Jahrhunderts vorgenommen. Der Roman "Wiesenstein" führt uns in Hauptmanns ländliche Trutz- und Protzburg im niederschlesischen Agnetendorf, das heute Jagniatkow heißt.
Der Roman beginnt im März 1945, im zerstörten, immer noch brennenden Dresden. Gerhart Hauptmann und seine Frau Margarete reisen nach einem Sanatoriumsaufenthalt wieder zurück nach Osten. Der Zug fährt durch eine von Bränden verwüstete Gegend, sie warten an demolierten Gleisen inmitten hungriger und abgerissener Menschen, die meistens in die andere Richtung wollen. Die Rote Armee kommt immer näher, aber vielleicht kommen doch noch die Amerikaner. Und ein ehrenvoller Friede. Oder der Endsieg.
Pleschinski schildert die Stimmung zwischen Verzweiflung, Resignation, Angst vor den eigenen Leuten und irrsinniger Siegesgewissheit sehr plastisch und eindrücklich. Und mittendrin die weltfernen, auf ihre Privilegien vertrauenden Existenzen der Hauptmanns, die mit Sekretärin und einem desertierten Wehrmachtsmasseur dem Flüchtlingsstrom entgegen nach Hause fahren: Wiesenstein wähnen sie als sicheren Hort, ein Hort des Geistes doch schließlich, bekannter Wohnsitz eines weltberühmten Genies.

Inmitten von Hunger und Chaos

Irgendwie scheinen diese Wunschträume auch wahr zu werden. In der üppig ausgestatteten Riesenvilla mit ihren erlesenen Kunstwerken und schweren Möbeln besteht der Haushalt mit Archivar, Butler, Köchin, Zofe und Gärtner noch nach Kriegsende unter russischer Besatzung und polnischer Verwaltung fort, während sich ringsum Hunger und Chaos ausbreiten. Es wird manchmal geplündert, Flüchtlinge werden untergebracht, aber die Stradivari der Frau Hauptmann liegt weiterhin in der Vitrine.
Hauptmanns legendäre Selbstgewissheit wird von moralischen Zweifeln erschüttert, aber bis zuletzt feilt er, von der eigenen Größe überzeugt, an seinem Werk. Sein gigantisches Archiv wird noch kurz vor Kriegsende mit einem Sonderzug nach Westen gebracht.
Das wäre eigentlich Stoff genug für diesen Roman. Pleschinski aber, offenkundig fasziniert von Hauptmanns zunehmend ins Mystische tendierendem Spätwerk, versucht zusätzlich, Lebens- und Werkgeschichte des Alten möglichst vollständig in die Geschichte einzubringen und zu interpretieren: Lange Zitate aus seinen Werken füllen die Seiten und die Romanfiguren unterhalten sich endlos über die verschiedenen Epochen im Leben des Großmeisters, damit dem Leser auch nichts davon entgehe. Das bremst den Fortgang der Handlung - und wirkt dann doch ziemlich konstruiert.

Im Rausch genialer Größe

Auch wenn Anfang 1946 der Kulturfunktionär der sowjetischen Besatzungszone, Johannes R. Becher, nach Agnetendorf fährt – diese Wahnsinnsfahrt inmitten von Vertreibung, Hunger und Massensterben hat tatsächlich stattgefunden – lässt Pleschinski die Reisegefährten nicht nur über Hauptmanns Ambivalenz gegenüber den Nazis, sondern auch über den Hitler-Stalin-Pakt räsonnieren. Das hätte zu Lebzeiten Stalins keiner gewagt, der an seinem Leben hing. Natürlich, man lernt einiges bei solchen langwierigen Ausführungen: Über Hauptmanns widersprüchliche Schriften und wie gerne er sich hofieren und feiern ließ von den Nazigrößen; und wie er sein moralisches Versagen in Rotwein und raunendem, sehr zeittypisch mythologischem Universalismus ertränkte.
Manchmal geht Pleschinskis hoch entwickelte Fähigkeit, in seinen Romanen zum Bauchredner seiner historischen Gestalten zu werden, ein bisschen mit ihm durch. "Wie aus dem Erdreich solcher Fürstenzug entlang der Terrassenmauer erwuchs, blieb ein Rätsel", legt er etwa dem Wiesensteiner Gärtner beim Anblick der Rosen in den Mund.
Aber dann gibt es in diesem Buch auch den anderen, vielleicht am Naturalismus des frühen Hauptmann geschulten Ton, der die grauenhaften Ereignisse im Nachkriegsschlesien kühl und genau schildert. Zwischen diesen beiden Polen – der realen Härte des Lebens und der berauschten Feier genialer Größe – bewegt sich das Werk Gerhart Hauptmanns. Und auf dessen Spuren auch dieser Roman.

Hans Pleschinski: Wiesenstein
C.H. Beck Verlag, München 2018
554 Seiten, 24 Euro

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