Hans-Ulrich Treichel: Tagesanbruch
Suhrkamp Verlag, Berlin 2016
88 Seiten, 17,95 Euro
Selbstbefreiung einer Mutter aus dem Kriegstrauma
Bücher, die sich Müttern und dem Drama verfehlter Leben widmen, sind gerade in Mode. Das radikalste hat Hans-Ulrich Treichel mit "Tagesanbruch" geschrieben. Im Selbstgespräch an der Seite ihres toten Sohnes löst sich eine Mutter in ergreifender Weise von ihrem bislang tabuisierten Kriegstrauma.
Mütterbücher haben Konjunktur. Geschrieben von Söhnen, die der Nachkriegsgeneration entstammen. Das Neue daran ist: Man rechnet nicht mehr ab mit der Schuld der Mütter und einer lieblosen Kindheit; stattdessen wendet man sich den Müttern und dem Drama verfehlter Leben zu, versucht zu verstehen, man versöhnt sich. Das radikalste dieser Bücher ist Hans-Ulrich Treichels "Tagesanbruch".
Eine alte Frau hat ihren krebskranken Sohn bis zu seinem Tod gepflegt. Er starb in ihren Armen. Während sie auf den Morgen wartet, spricht sie, mit sich, mit dem Toten. Von den Aufbaujahren in der Adenauer-Zeit, dem Geschäft, das sie mit ihrem kriegsversehrten Mann aus dem Boden gestampft hat, dem Wohnzimmer, das im Winter ungeheizt blieb, weil man immerzu sparte und schon gar keine Zeit für faules Herumsitzen hatte. Studiert hätte sie gerne, aber auch dafür fehlte das Geld.
Sie erinnert sich an das schwarz glänzende Klavier, das man statt eines Elektroherds anschaffte, weil es etwas "Beständiges" war, das "etwas hermachte". Der einzige Sohn sollte darauf spielen, damit aus ihm etwas Besonderes würde. Eine vergebliche Hoffnung, wie andere längst begrabene Träume, auch wenn er beruflich gesehen durchaus Erfolg hatte. Was sie nicht begraben kann, ist der Schmerz, ihm niemals nahe gekommen zu sein.
Karge, lakonisch verknappte Sprache
Es ist ein tastendes Selbstgespräch, das die Mutter im Schutz der Nacht führt, auf ein schreckliches Ziel zu. Darüber hat sie zeitlebens geschwiegen. Eine Geschichte, die sie so tief in sich verschlossen hatte, als wäre sie nicht dabei gewesen: Damals, auf ihrer Flucht aus dem Osten, als russische Soldaten an einem eisigen Wintertag über sie herfielen. Eine Tragödie, über die man nicht sprach, mit niemandem aus der Familie, schon gar nicht mit dem Sohn. Jetzt nennt sie ihn zaghaft-zärtlich ihr "Sommerkind", weil es im August zur Welt kam.
Seit seinem ersten, 1998 erschienenen Roman "Der Verlorene" umkreist Treichel die Traumata des Krieges. Es ist die Geschichte seiner Eltern, die aus dem Osten geflüchtet sind und im Nachkriegsdeutschland Fuß zu fassen versuchten. Viele Motive aus den früheren Romanen werden in "Tagesanbruch" aufgegriffen: Vom Vater, der an der Front seinen Arm eingebüßt hat, von einer tüchtigen, lieblos scheinenden Mutter, vom Aufstiegswillen der Vertriebenen im Wirtschaftswunderland und der Gefühlskälte der Einheimischen.
Anders als in den früheren Romanen, die aus der Perspektive des sich ironisch distanzierenden Sohnes geschildert sind, gibt Treichel der Mutter eine Stimme, in einer kargen, lakonisch verknappten Sprache. Auf weniger als neunzig Seiten verdichtet er, wie eine Frau sich von allem Unglück, das sie ihr ganzes Leben lang im Griff hatte, befreit. Dass ihr erzählend gelingt, sich von der Scham loszusagen, ist ergreifend. Das berührt mehr als manch ein vielhundertseitiger ausschweifender Familienroman.