Hans-Ulrich Treichel: "Tagesanbruch"

Verheerendes Schweigen in Nachkriegsfamilien

Prof. Dr. Hans-Ulrich Treichel
Der Schriftsteller und Literaturprofessor Hans-Ulrich Treichel zu Gast im Deutschlandradio Kultur © Deutschlandradio / Manfred Hilling
Hans-Ulrich Treichel im Gespräch mit Joachim Scholl |
"Es gibt Dinge, die verschweigt man sogar den Toten", schreibt Hans-Ulrich Treichel in seiner autobiografisch gefärbten Erzählung "Tagesanbruch". Das Schweigen in seiner Familie sei ein Zentralmotiv seines Schreibens gewesen, erklärt der Autor.
Ein schmales Buch, eine Erzählung von knapp 90 Seiten – doch darin wird die ganze Tragödie eines Lebens komprimiert: "Tagesanbruch" heißt das neue Buch von Hans-Ulrich Treichel. Es beginnt mit einer anrührenden Szene: Eine Mutter hält ihren toten Sohn in den Armen, er ist in der Nacht gestorben. Sie hat ihn über Monate gepflegt, bei Tagesanbruch erzählt sie ihm, worüber sie lebenslang geschwiegen hat.
Diese Perspektive der trauernden Mutter einzunehmen, sei für ihn eine neue Erfahrung gewesen, beschrieb Treichel im Deutschlandradio Kultur:
"Ich habe länger darüber nachgedacht, dass ich einer Mutter eine Stimme geben wollte. In den meisten meiner Romane gibt es Figuren, die mir ähneln, die ein bisschen meine eigene Lebensgeschichte begleiten – wenngleich es auch fiktionale Texte sind. Aber schon länger hat sich die Frage in meinem Kopf bewegt: Wie sieht es eigentlich aus der anderen Perspektive aus?"

Das Trauma der Vergewaltigung

Das Zentralmotiv seines Schreibens sei das Schweigen in seiner Familie über die Ereignisse auf der Flucht aus den früheren Ostgebieten gewesen, erzählte Treichel. So handele der Roman "Der Verlorene" vom Verlust seines älteren Bruders auf der Flucht aus den ehemaligen Ostgebieten im Januar 1945. Seine Eltern hätten das Kind später immer wieder gesucht, aber sie hätten nie darüber gesprochen:
"Diese Suche hat hinter dem Rücken ihrer späteren Kinder stattgefunden. Und ich habe erst in den neunziger Jahren davon erfahren."
"Es gibt Dinge, die verschweigt man sogar den Toten", so heißt es an einer Stelle des Buches "Tagesanbruch". Es gab auf dieser Flucht einen weiteren schrecklichen Vorfall – von dem die Mutter des Buches ihrem toten Sohn nichts berichtet.
"Das ist das eigentlich traumatisierende Ereignis, von dem ich auch erst sehr viel später erfahren habe. Das ist noch gar nicht lange her. Meine Eltern wurden aus dem Treck herausgenommen. Es kam zu einer Mehrfach-Vergewaltigung meiner Mutter im Beisein meines Vaters. Und dann gab es das Kommando, meine Eltern zu erschießen. Sie sind dann in einen Wald geführt worden. Und dann gab es den Mann, der diese Exekution durchführen sollte – er wurde später in der Familie immer wieder 'Der gute Russe' genannt -, und dieser Soldat hat dann in die Luft geschossen und meine Eltern entkommen lassen."

Lebenslanges Schweigen der Eltern

Von diesen Geschehnissen habe er erst vor fünf Jahren bei einem Familientreffen erfahren, sagte Treichel. Er könne das Schweigen der Eltern durchaus nachvollziehen:
"Doch man kann sich fragen: Wie lange kann so ein Nicht-Erzählen eigentlich aufrecht erhalten werden? In diesem Fall war es ein Leben lang. Doch ich habe dafür auch Verständnis. In der Erzählung 'Tagesanbruch' gibt es allerdings noch eine zweite Stufe des Schweigens: nämlich das Verschweigen vor sich selbst."

Hans-Ulrich Treichel: Tagesanbruch
Suhrkamp Verlag, Berlin 2016
88 Seiten, 17,95 Euro

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