Hanya Yanagihara: "Das Volk der Bäume". Roman
Aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Stephan Kleiner
Hanser Berlin Verlag, Berlin 2019
478 Seiten, 25 Euro
Vergewaltigung von Mensch und Natur
Machtmissbrauch und Profitgier: Im Roman "Das Volk der Bäume" von Hanya Yanagihara entdecken drei US-Forscher in der Südsee einen steinzeitlich lebenden Stamm. Damit beginnt dessen Untergang und die Zerstörung der Insel-Idylle, die ihn umgibt.
Die orthodoxe Anthropologie hat heute keinen guten Ruf. Der Vorwurf: Ethnologen verhalten sich wie Kolonialherren. Sie kolonisieren, was sie entdecken, und zerstören, was sie studieren – auch ohne böse Absicht. Zahlreich sind die Beispiele für die Jagd westlicher Feldforscher nach unentdeckten indigenen Völkerstämmen, deren unberührte Lebensweise, Rituale, Mythen und Moral sie vor Ort beobachten und beschreiben, um damit akademischen Ruhm einzuheimsen.
Nur leider sind diese Naturvölker nach ihrer Veröffentlichung nicht mehr unberührt: Ihre Entdeckung führt in der Regel zur Zerstörung ihrer Lebensweise und zu ihrem Untergang.
Untergang eines fiktiven Südsee-Volksstammes
Die Probe auf dieses Exempel macht Hanya Yanagihara in ihrem Debütroman "Das Volk der Bäume", der in den USA bereits 2013 erschien, vom deutschen Verlag aber erst jetzt herausgebracht wird, im Gefolge ihres Bestsellers "Ein wenig Leben", der die US-Autorin mit hawaiianischen Wurzeln vor zwei Jahren weltbekannt machte. Der Roman erzählt von der Entdeckung und dem Untergang eines fiktiven Südsee-Volksstammes im Urwald einer erfundenen mikronesischen Insel.
Drei amerikanische Feldforscher erkunden den steinzeitlich lebenden Stamm und entreißen ihm sein Geheimnis, was für alle fatal endet. Der Stamm wird ausgelöscht, sein Insel-Paradies wird zerstört.
Dem Helden des Romans, dem Mediziner Norton Perina, für den der diskreditierte Nobelpreisträger Daniel Gajdusek Modell stand, bringt seine Forschungsarbeit erst akademischen Weltruhm, inklusive Nobelpreis, schließlich aber persönliche Schande und eine Gefängnisstrafe wegen Pädophilie. Er hat auf der Insel eine rituelle Form der Knabenliebe kennengelernt und missbraucht danach jahrelang seine Adoptivkinder.
Machtmissbrauch, Imperialismus und Vergewaltigung
Es geht im Roman also um Macht und Machtmissbrauch, um Imperialismus und die Vergewaltigung von Mensch und Natur, aber auch um die kulturellen Missverständnisse, Irrtümer und Fehldeutungen, denen Feldforscher erliegen, wenn sie, ohne es zu merken, ihre eigenen Prägungen, ihr Wunschdenken und ihre Vorurteile auf den beobachteten Volksstamm projizieren und so dessen Bild verzerren.
So ergeht es dem unerfahrenen jungen Labor-Mediziner Perina, der sich abrupt in die überwältigend wuchernde Dschungel-Wildnis einer unerforschten Südsee-Insel versetzt sieht, als Begleiter zweier Anthropologen.
Dort trifft das Forscher-Trio auf ein urtümliches Dorf von Jägern und Sammlern, aber auch auf einen verlorenen Haufen im Dschungel umherirrender Ausgestoßener. Diese scheinen mehrere hundert Jahre alt zu sein, zeigen die körperliche Fitness gesunder 60-Jähriger, leiden aber unter fortschreitender Degeneration des Gehirns.
Opfer von westlicher Profitgier
Perina findet die Ursache für diese "Parodie von Unsterblichkeit" heraus: Der rituelle Verzehr des Fleisches von Schildkröten, die auf der Insel endemisch und den Eingeborenen heilig sind. Zu Forschungszwecken tötet Perina heimlich eine Schildkröte und schmuggelt sie nach Amerika. Damit löst er ein Wettrennen der Pharma-Firmen um die Entwicklung eines Anti-Aging-Medikaments aus. Die Insel wird verwüstet, ihr Schildkrötenbestand schließlich ausgerottet, Opfer westlicher Profitgier.
Der Roman hat die Form von Memoiren, von Perina im Gefängnis geschrieben und von seinem übereifrigen, bewundernden Assistenten heftig redigiert. Yanagihara stattet Perinas Erzählung mit barockem Detailreichtum aus, inklusive pseudo-wissenschaftlicher Fußnoten. Erst durch diese Fülle an peniblen Fakten und die seriöse dokumentarische Anmutung gewinnt auch das fantastische Thema Unsterblichkeit seine Glaubwürdigkeit.