Hanya Yanagihara: „Zum Paradies“

Das Streben nach Glück

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Auf dem Buchcover ist das gemalte Porträt eines jungen Mannes mit schwarzen Augen und schwarzem Haar zu sehen, dazu der Buchtitel und der Autorinnenname.
© Ullstein Verlag

Hanya Yanagihara

übersetzt von Stephan Kleiner

Zum ParadiesClaassen, Berlin 2022

895 Seiten

30,00 Euro

Von Dorothea Westphal · 11.01.2022
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Eine homophile Vergangenheit, die es so nie gab, und eine beklemmend verschwörungstheoretische Zukunft: Hanya Yanagihara entwirft in ihrem neuen Roman fiktive Versionen der US-amerikanischen Gesellschaft.
Ein Paradies kann vieles sein: eine Liebe, das ersehnte Wiedersehen mit dem Sohn, ein Leben in Freiheit und Geborgenheit. Doch ob ein solches auf Erden erreichbar ist, bleibt offen.

„Zum Paradies“ – mit diesen Worten endet jedes der drei Bücher, aus denen Hanya Yanagiharas Roman, der sich über zwei Jahrhunderte – vom Ende des 19. bis zum Ende des 21. Jahrhunderts – spannt, besteht.

Gleichgeschlechtliche arrangierte Ehen

Buch I spielt in den USA des 19. Jahrhunderts, die aber mit der historischen Wirklichkeit nicht viel zu tun haben. Nach Rebellionskriegen zerfiel das Land in arme Kolonien und wohlhabende Freistaaten mit New York als Zentrum. Hier lebt David Bingham bei seinem vermögenden und einflussreichen Großvater in einem stattlichen Haus am Washington Square, das er einmal erben soll.
Arrangierte Ehen zwischen demselben Geschlecht sind in dieser fiktiven Welt die Regel, doch David verliebt sich glühend in einen anderen als den für ihn vorgesehenen Mann und lässt alles hinter sich, um diesem nach Kalifornien zu folgen.

Ein David hawaiianischer Abstammung

Auch im zweiten Buch lebt ein David Bingham, diesmal königlich-hawaiianischer Abstammung, in dem Haus am Washington Square, das seinem reichen Liebhaber gehört. Es sind die 1990er-Jahre, die Zeit von Aids.
Davids todkranker Vater ersehnt in einem Brief ein Wiedersehen mit seinem Sohn. Den hatte er verlassen, um einem Freund zu folgen, der für die Unabhängigkeit Hawaiis kämpfen wollte.

Dystopie aus Diktatur und Pandemien

Im Haus am Washington Square lebt auch Charlie mit ihrem Großvater, einem hochrangigen Wissenschaftler, in Buch III. Später wird das Haus in Wohneinheiten aufgeteilt und in eine davon zieht sie mit ihrem Ehemann.
Ende der 90er-Jahre des 21. Jahrhunderts haben Pandemien zum Ende aller Bürgerrechte geführt. Ein totalitäres Regime herrscht, Fernsehen und Internet sind verboten, die Grenzen wurden geschlossen. Kranke kommen in Lager, Nahrung ist rationiert und die Menschen tragen Kühlanzüge gegen die Hitze. In riesigen Labors werden neue Krankheitserreger erforscht. Charlie hat von einer der in Wellen auftretenden Pandemien bleibende Schäden davongetragen.

Beklemmende Aktualität im letzten Teil

Vor dem Hintergrund der Coronapandemie und des Klimawandels liest sich diese Dystopie, die von Verschwörungstheoretikern ersonnen sein könnte, äußerst beklemmend. Auch das Fazit, das der Großvater an einer Stelle zieht, ist bedrückend: „Die Krankheit hat uns in jeder Hinsicht darüber aufgeklärt, wer wir sind. Wenn wir überlebt haben, dann deshalb, weil wir schlimmer sind als wir je glaubten, nicht besser“.
Was macht ein solches Szenario mit uns? Wieviel Einschränkung nehmen wir aus Angst vor Krankheit in Kauf? Und wie weit würden wir gehen, um die zu schützen, die wir lieben, aber auch uns selbst?  

Faszinierend, aber verwirrendes Puzzle

Bei der Erkundung dieser Fragen gilt das Interesse der Autorin vor allem versehrten, lebensuntüchtigen Charakteren, die unter dem Schutz von Stärkeren stehen. Dies ist eines von verschiedenen, wiederkehrenden Motiven, mit denen sie die drei Bücher zusammenbindet. Auch Themen wie Rassismus, Kolonialismus und Homosexualität kehren immer wieder ­- ebenso einige Namen.
So entsteht ein faszinierendes und verwirrendes Puzzle, dessen Teile sich allerdings nicht zu einem inhaltlichen Ganzen fügen, da die jeweiligen Erzählstränge nicht weitergeführt werden. Eher finden sich über die zwei Jahrhunderte geltende Konstanten. Es bietet Überraschungen, wenn man sich diesem erzählerischen Netz überlässt,  wiewohl einem die verschiedenen Charaktere und ihre Schicksale eher fernbleiben.

Erkundung der menschlichen Psyche

Die drei Bücher sind von Mal zu Mal etwas komplexer gestaltet. Der Ton der verschiedenen Erzählungen allerdings ändert sich kaum. So ist Buch I eher motivisch als sprachlich an den berühmten Roman „Washington Square“ von Henry James angelehnt. 
„Zum Paradies“ liest sich geschmeidig, hat aber durchaus Längen. Trotzdem entfaltet der Roman einen Sog, was an dem aufwühlenden Panorama liegt, das Yanagihara bei ihrer Erkundung der menschlichen Psyche entwirft.
„Zum Paradies“ – es könnte unser beständiges Streben danach sein, was uns als Menschen ausmacht.
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