Die DDR in 250.000 Einzelaufnahmen
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Von 1978 bis zur Wiedervereinigung dokumentierte der Fotograf Harald Hauswald den Alltag in der DDR. Nun wird sein Archiv gesichtet. Ein Mammutprojekt, denn Notizen hat er sich nie gemacht, um der Stasi keine Informationen zu liefern.
Als Harald Hauswald erkannte, dass er Deep Purple niemals würde live spielen sehen, dass er in seinem ganzen Leben nie nach London, ja vielleicht nicht einmal nach Budapest würde reisen dürfen, war er 24 Jahre alt:
Druck erzeugt Gegendruck, sagt Hauswald heute. Damals, 1978, begann er zu fotografieren: Ostberlin, so wie er es sah: Kinder, die in Autowracks spielten, Schlangen vor dem Obstladen, illegale Rockkonzerte, Liebespaare. Und jetzt, 40 Jahre später: Restauratoren-Teams, digitale Kontaktbögen, lückenlose Archivnummern.
"Der Deal mit der Stiftung war der, dass sie die Aufarbeitung des Archives finanzieren, weil ich nie das Archiv gepflegt oder wirklich angelegt habe, einfach aus politischen Gründen. Weil ich mehrere Hausdurchsuchungen hatte.
Also habe ich auf die Kontaktbögen nie Namen drauf geschrieben, keine Veranstaltungen draufgeschrieben, weil ich natürlich nicht wollte, dass die Stasi da einen Selbstbedienungsladen findet. Und hinterher, als die Mauer aufging, war da natürlich ein Riesenchaos, 7.000 Filme."
Harald Hauswald, 64 Jahre alt, steht am großen Konferenztisch der Foto-Agentur Ostkreuz, beugt sich über einen Negativstreifen. Eigentlich müsste er hier Handschuhe tragen, so wie Fotorestauratorin Kerstin Bartels neben ihm. Aber Hauswald winkt ab:
"Ich habe 40 Jahre lang meine Negative ohne Handschuhe angefasst, da werde ich das auch weiterhin so machen."
Der Anfang: Negative von Staub befreien und nummerieren
Vor etwa einem Jahr haben sie hier angefangen, waren mal zu dritt, mal zu fünft. Profis, die Hauswalds Filme - rund 250.000 Einzelaufnahmen - Negativ für Negativ untersuchten. Mit extra weichen Zellulose-Tüchern von Staub und Flecken befreiten, in atmungsaktiven Negativtaschen steckten, die Taschen durchnummerierten und in DIN-A-4 große Ordner abhefteten.
Seither lagern in dem großen weißen Stahlschrank am Ende des Konferenzraumes 50 solcher Ordner mit jeweils 150 Negativtaschen, einzeln in Spezialkartons verpackt.
Doch bei der wichtigsten Aufgabe ist Hauswald von Anfang an allein: Niemand außer ihm kann sagen, was genau auf den Fotos zu sehen ist. Ende des Jahres, wenn das Projekt ausläuft, sollen 6.000 seiner Negative digitalisiert sein, der Öffentlichkeit für Bildungszwecke frei zur Verfügung stehen.
Für Hauswald bedeutet das, sich noch einmal über jeden einzelnen Kontaktabzug zu beugen, eine Auswahl zu treffen und 6.000-fach zu recherchieren: Namen, Orte, Jahreszahlen.
"Ich bin jetzt bei 1.500 Filmen und muss pro Woche 150 Filme durchsehen, damit wir im Zeitplan bleiben fürs Projekt. Wenn ich sehr intensiv arbeite, schaffe ich 50 Filme pro Tag."
Fotos als Liebeserklärung an die Menschen der DDR
Eine mühsame, aber schöne Arbeit, sagt Hauswald. 1990, als er direkt nach der Wende Gründungsmitglied der Fotoagentur Ostkreuz wurde, begann er mit seinen Aufnahmen von Ausstellung zu Ausstellung zu reisen, gewann Preise, hatte Erfolg. Doch immer mit dem Gefühl, keinen vernünftigen Zugang zum eigenen Werk zu haben.
Das hat sich nun geändert: Wenn Hauswald heute über seinen Aufnahmen sitzt, kann er noch immer lachen über die oft unfreiwillige Komik des DDR-Alltags, und immer noch freut er sich, wenn er Leute von damals auf seinen Bildern wieder erkennt.
So kaputt sein Osten auch oft aussah - Hauswald sah seine Bilder immer als eine Liebeserklärung an die Menschen in der DDR. Eine Haltung, die sich auch heute noch auf die Betrachter überträgt, egal, wo sie geboren sind, sagt Sybille Fendt, selbst Fotografin und im Hauswald-Projekt für die Feinscans verantwortlich:
"Ich war ein Kind und ein Teenager, als es die DDR gab, und habe tief im Westen gewohnt. Und wenn ich das jetzt sehe, ist das ein paralleles Leben, das wir auch gelebt haben. Natürlich staune ich, wie kaputt die Stadt war, da hat man als Wessi eher Nachkriegsassoziationen. Aber ansonsten lernt man natürlich, dass es ein genauso volles sattes Leben war wie woanders auch. Aber natürlich politisch sehr aufgeladen, was es sehr spannend macht."
Ein Großteil der künftig frei zugänglichen Bilder hat außerhalb der Agentur Ostkreuz noch nie jemand gesehen. Völlig umkrempeln werden sie das Bild vom Alltag in der DDR nicht, meint Hauswald. Höchstens, dass hier und da ein paar neue, bislang unbekannte Töne dazukommen könnten:
"Hauswald ist bekannt für laute und stille Bilder - und was jetzt insgesamt aus dem Archiv nochmal rauskommt, sind viel leisere Sachen dabei: Es wird noch mal eine etwas intimere DDR."